The New Wild
The New Wild
Im Interview mit Franziska Klose über ihr Detroit-Buch und ihr Langzeitprojekt zu postindustriellen Landschaften
Anna-Lena Wenzel: Vor kurzem ist Dein Buch Detroit: Field Notes From a Wild City bei Spector Books erschienen, das sich der „zeitgenössische Stadtlandschaft der deindustrialisierten Metropole Detroit“ widmet, wie es im Ankündigungstext heißt. Wie oft und wie lange warst du in Detroit?
Franziska Klose: Ich war dreimal in Detroit. 2015 und 2016 für den Sommer (je drei Monate) und 2018 kurz für einen Monat.
Kannst du beschreiben, wie du bei deinen Aufenthalten vorgegangen bist, was dich interessiert hat und was du letztlich fotografiert hast?
Vor der Reise habe ich Orte recherchiert, die ich gern sehen wollte. Dazu war die Publikation „Schrumpfende Städte“ von 2004 sehr hilfreich.
Als ich dann vor Ort war, bin ich viel herumgefahren – erst mit dem Fahrrad allein, später mit anderen Leuten, die ich dort kennengelernt habe, und irgendwann auch mit dem Auto, um größere Strecken zurückzulegen. Auf diesen Touren habe ich digital fotografiert und eine erste Auswahl getroffen, vom Ort und der Bildkomposition. Die eigentlichen Fotografien sind dann analog bei einer zweiten oder dritten Ortsbegehung entstanden. Die Farmen und Gärten habe ich ab 2016 kontaktiert, meist über Molly Hubbel. Sie arbeitet bei „Keep Growing Detroit“, einer Farm, die auch als Netzwerk fungiert und viele Farmen und Gärten zusammenbringt. Überhaupt waren alle Menschen, die ich traf, sehr aufgeschlossen und hilfsbereit, was die Vernetzung betraf. Das hat mir sehr geholfen!
Mit den Farmer*innen habe ich jeweils kurze Interviews geführt, in denen sie mir ihre Arbeit erklärten. Danach habe ich meist ein-, manchmal auch zweimal fotografiert.
Parallel dazu habe ich Pflanzen gesammelt, bestimmt und Texte recherchiert. Dazu war ich regelmäßig in der Burton Historical Collection der Detroit Public Library (mit einer erwähnenswerten Klimaanlage – Detroit ist im Sommer wirklich heiß…).
Diese Arbeitsweise hatte ich bereits fünf Jahre zuvor mit dem Buch über Bitterfeld entwickelt. Für die Auswertung des gesammelten Materials und für die Buchkonzeption brauchte es dann noch einmal fünf Jahre.
Wie unterscheidet sich die Situation in Detroit von der in Bitterfeld?
Detroit würde ich als extremer beschreiben – wesentlich größer, multikultureller, pulsierender aber auch sozial ungerechter und bestimmt von einem durchaus brutalen Privatkapitalismus.
Obwohl es oft als „leer“ beschrieben wird, wohnen immerhin 700.000 Menschen dort. Im Vergleich zu Bitterfeld findet dort viel mehr politische Organisation, Selbstbeteiligung und Selbstverwaltung der Bürger*innen statt. Strategien der Postwachstumsgesellschaft werden dort seit Jahrzehnten entwickelt und umgesetzt. Das geschieht allerdings aus der Not heraus, denn die Infrastruktur, wie z.B. der öffentliche Nahverkehr, der Zugang zu medizinischer Versorgung oder zu Lebensmitteln, ist dort viel schlechter. In Bitterfeld gibt es fast so viele Supermärkte wie in ganz Detroit – obwohl in Bitterfeld nur 15.000 Menschen leben!
Die Deindustrialisierung bzw. Abwicklung und Abwanderung der Industrien und Arbeitsplätze fand in beiden Städten sehr intensiv statt. In Bitterfeld quasi von einem Tag auf den anderen (von 1990 auf 1993 wurden die Kraftwerke und der Hauptteil des Kombinats abgerissen, der komplette Tagebau wurde eingestellt, gesichert und geflutet.). In Detroit hat die Abwanderung über 30 Jahre gedauert, Ausgleichszahlungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Sanierungshilfen von Seiten des Staates gab es keine. Die Folgen für die Arbeitnehmer*innen waren in beiden Fällen fatal – sie tragen die Kosten dieser Entwicklung. Gemein ist beiden Orten, dass die Menschen sehr aufgeschlossen sind. Und sie sind sich sehr bewusst, dass die „Labels“ (von ökologischem Katastrophengebiet bis zur Murder City), die ihrer Stadt angeheftet wurden, nicht der Wahrheit entsprechen.
Den Begriff „Ruin Porn“ habe ich im Ankündigungstext des Buches zum ersten Mal gelesen. Kannst du ihn kurz erläutern?
Wie „Food Porn“ bezeichnet der Begriff die ausschließlich ästhetisierte Hochglanzdarstellung – in diesem Fall von Ruinen. Das hat meist wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Hintergründe, Ursachen und auch die Bewohner*innen dieser Gegenden werden dabei ganz ausgeblendet. Der Begriff „Ruin Porn“ geht auf den Detroiter James D. Giffioden zurück, der sich 2009 darüber aufregte, dass er Journalist*innen den ganzen Tag durch Detroit führte und sie am Ende doch nur die Ruinen fotografierten1 In diesem Sinne mache ich das Gegenteil von „Ruin Porn“. Mich interessiert das Potential dieser Orte als Freiraum aber auch deren historischer Kontext und die Hintergründe, warum sich diese Stadtlandschaft sich so entwickelt hat.
In den Texten, die du zu den einzelnen Bildern geschrieben hast, fächerst du diese historischen Kontexte auf und beschreibst, wie die Brachen als Gemeinschaftsgärten genutzt werden, die Gemeinschaft stiften, Arbeitsplätze schaffen und der Nahversorgung dienen. Wie sehr hat dich bereits beim Fotografieren der Wunsch angetrieben, diese gesellschaftlichen Verhältnisse abzubilden?
Beim Fotografieren zuerst noch gar nicht. Die Fotos sind sehr eigenständig entstanden und stehen auch so im Buch. Bei der Auswahl der Orte wurde es mir später jedoch immer wichtiger, die kulturelle Vielfalt Detroits mit einzubeziehen.
Die Themen der sozialen Ungerechtigkeit und Rassismus in Bezug auf Grundstücksbesitz und auch Zugang zu Lebensmitteln oder Wasser kamen durch die Textrecherche. Erst dadurch wurden mir die historischen Wurzeln von dem, was heute passiert, bewusst. Und so ist es im Buch auch dargestellt, man kann diese Hintergründe anhand der Texte nachvollziehen.
Das Buch enthält neben zahlreichen Fotos ein Register (von Albert Kahn bis Weltwirtschaftskrise), kurze Bild- bzw. Ortsbeschreibungen und beginnt mit einem Verzeichnis aller im Buch vorkommenden Pflanzen, wobei du für die unterschiedlichen Inhalte verschiedene Papiere verwendest, was ich sehr schön finde. Ergänzt wird die Textebene durch Zitate, die du Büchern und Gesprächen entnommen hast. Mich erinnert dieser Aufbau und die sachliche Art der Texte an Nachschlagewerke wodurch das Buch ein bisschen ein Hybrid aus Künstlerin- und Sachbuch ist. Wie würdest du diesen Eindruck kommentieren? Und würdest du in Bezug auf deine Arbeit von künstlerischer Forschung sprechen?
Es ist durchaus ein Erforschen, ein Studium von Orten, die ich mag – als Freiräume und Naturräume. So fing es sehr 2010 eher beiläufig an. Neben den Fotografien kamen dann sehr schnell auch die Botanik, Industriegeschichte und speziell in Detroit amerikanische Stadtsoziologie und Politik dazu, und so wurde es immer komplexer. Diese Komplexität habe ich versucht im Buch darzustellen. Je mehr man über einen Ort weiß, desto mehr verändert sich ja auch sein Blick auf ihn. Er wird differenzierter und zugleich weiter. Das möchte ich natürlich weitergeben, und so ist das Buch sehr vielschichtig zu lesen.
Ich finde das funktioniert sehr gut! Mir sind beim Schauen zwei Sachen aufgefallen: dass es wirklich eine grüne Stadt ist, und dass die verschiedenen Ebenen, die du gerade aufgezählt hast, sehr beiläufig ins Bild gesetzt sind. Du verzichtest nicht nur auf die klassischen Industrieruinenbilder, sondern auch auf Bilder von Infrastrukturen, Menschen, Geschäften. Man könnte glauben, Detroit würde nur aus Brachen und Gärten entstehen! Wenn man aber genauer schaut – und die Texte dazu liest – schließen sich diese ganzen Ebenen von Grundstückspolitiken, Selbstorganisation und Bodenkontamination als Folge der industriellen Nutzung auf und man beginnt noch mal genauer zu schauen.
Natürlich gibt es in Detroit nicht nur Brachen, sondern auch Downtown und Midtown mit Hochhäusern, viktorianischen Villen und einer „normalen“ Infrastruktur mit einer neuen Straßenbahn, einer Universität, Krankenhäusern etc. Die gibt es aber eben nur dort – auf 2 von insgesamt 139 Squaremeilen. Der überwiegende Teil sind Wohngebiete ohne diese Infrastrukturen, und manche bestehen durch die große Abrisswelle seit 2010 zum Großteil aus Brachen. Zudem besteht das Projekt ja auch darin Brachen zu dokumentieren.
Als letzte Frage würde ich gerne wissen, woran du zur Zeit arbeitest? In Berlin werden die Brachen und Freiflächen ja immer weniger, was die Gefahr eines nostalgischen Blickes birgt, wenn man sich mit ihnen beschäftigt…?
Detroit und Bitterfeld sind Teile meines Langzeitprojektes „The New Wild“ über postindustrielle Landschaften, das ich 2010 begonnen habe. Die ersten Bilder sind in Leipzig entstanden. Durch Bombenlücken des Zweiten Weltkriegs oder abgerissene Fabriken nach der Wende 1989 war die Stadtstruktur hier sehr durchlässig, perforiert, wie es vor 20 Jahren hieß. Wildwuchs konnte ungestört stattfinden, die Stadt war ungewöhnlich grün womit sie im Stadtmarketing gern geworben hat. Seit der Finanzkrise ist auch hier wie in vielen Städten eine ungehemmter Bauboom ausgebrochen. Die „Leerstellen“ sind fast alle geschlossen, die Stadt wird quasi versiegelt. Bäume, Brachen und Nachbarschaftsgärten sind zugunsten von Eigentumswohnungen, Stadthäusern und Parkplätzen verschwunden, die Mieten explodieren. Dieses Verschwinden finde ich weniger nostalgisch, sondern vor dem Hintergrund einer zukünftigen Stadt destruktiv und gar dramatisch. Es wird nicht nur Lebensqualität regelrecht verbaut, sondern auch der Grundstein für ein heißeres, trockeneres Stadtklima gelegt, das einen erhöhten Energieverbrauch zu Folge hat. Bäume sind ja nicht nur schön grün, sondern auch Luftfilter, Wasserspeicher und Kühlaggregate. In diese Richtung wird es sicher auch eine Publikation über Leipzig geben, die Stadtnatur nicht nur dokumentiert, sondern auch dazu beitragen soll, sie als Lebensgrundlage wert zu schätzen.
1 Siehe Morton, Thomas: "Something, Something, Something, Detroit“, Vice Magazine Online, August 1, 2009 https://www.vice.com/en_us/article/ppzb9z/something-something-something-..., abgerufen am 13.10.2015.
Franziska Klose: Ich war dreimal in Detroit. 2015 und 2016 für den Sommer (je drei Monate) und 2018 kurz für einen Monat.
Kannst du beschreiben, wie du bei deinen Aufenthalten vorgegangen bist, was dich interessiert hat und was du letztlich fotografiert hast?
Vor der Reise habe ich Orte recherchiert, die ich gern sehen wollte. Dazu war die Publikation „Schrumpfende Städte“ von 2004 sehr hilfreich.
Als ich dann vor Ort war, bin ich viel herumgefahren – erst mit dem Fahrrad allein, später mit anderen Leuten, die ich dort kennengelernt habe, und irgendwann auch mit dem Auto, um größere Strecken zurückzulegen. Auf diesen Touren habe ich digital fotografiert und eine erste Auswahl getroffen, vom Ort und der Bildkomposition. Die eigentlichen Fotografien sind dann analog bei einer zweiten oder dritten Ortsbegehung entstanden. Die Farmen und Gärten habe ich ab 2016 kontaktiert, meist über Molly Hubbel. Sie arbeitet bei „Keep Growing Detroit“, einer Farm, die auch als Netzwerk fungiert und viele Farmen und Gärten zusammenbringt. Überhaupt waren alle Menschen, die ich traf, sehr aufgeschlossen und hilfsbereit, was die Vernetzung betraf. Das hat mir sehr geholfen!
Mit den Farmer*innen habe ich jeweils kurze Interviews geführt, in denen sie mir ihre Arbeit erklärten. Danach habe ich meist ein-, manchmal auch zweimal fotografiert.
Parallel dazu habe ich Pflanzen gesammelt, bestimmt und Texte recherchiert. Dazu war ich regelmäßig in der Burton Historical Collection der Detroit Public Library (mit einer erwähnenswerten Klimaanlage – Detroit ist im Sommer wirklich heiß…).
Diese Arbeitsweise hatte ich bereits fünf Jahre zuvor mit dem Buch über Bitterfeld entwickelt. Für die Auswertung des gesammelten Materials und für die Buchkonzeption brauchte es dann noch einmal fünf Jahre.
Wie unterscheidet sich die Situation in Detroit von der in Bitterfeld?
Detroit würde ich als extremer beschreiben – wesentlich größer, multikultureller, pulsierender aber auch sozial ungerechter und bestimmt von einem durchaus brutalen Privatkapitalismus.
Obwohl es oft als „leer“ beschrieben wird, wohnen immerhin 700.000 Menschen dort. Im Vergleich zu Bitterfeld findet dort viel mehr politische Organisation, Selbstbeteiligung und Selbstverwaltung der Bürger*innen statt. Strategien der Postwachstumsgesellschaft werden dort seit Jahrzehnten entwickelt und umgesetzt. Das geschieht allerdings aus der Not heraus, denn die Infrastruktur, wie z.B. der öffentliche Nahverkehr, der Zugang zu medizinischer Versorgung oder zu Lebensmitteln, ist dort viel schlechter. In Bitterfeld gibt es fast so viele Supermärkte wie in ganz Detroit – obwohl in Bitterfeld nur 15.000 Menschen leben!
Die Deindustrialisierung bzw. Abwicklung und Abwanderung der Industrien und Arbeitsplätze fand in beiden Städten sehr intensiv statt. In Bitterfeld quasi von einem Tag auf den anderen (von 1990 auf 1993 wurden die Kraftwerke und der Hauptteil des Kombinats abgerissen, der komplette Tagebau wurde eingestellt, gesichert und geflutet.). In Detroit hat die Abwanderung über 30 Jahre gedauert, Ausgleichszahlungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Sanierungshilfen von Seiten des Staates gab es keine. Die Folgen für die Arbeitnehmer*innen waren in beiden Fällen fatal – sie tragen die Kosten dieser Entwicklung. Gemein ist beiden Orten, dass die Menschen sehr aufgeschlossen sind. Und sie sind sich sehr bewusst, dass die „Labels“ (von ökologischem Katastrophengebiet bis zur Murder City), die ihrer Stadt angeheftet wurden, nicht der Wahrheit entsprechen.
Den Begriff „Ruin Porn“ habe ich im Ankündigungstext des Buches zum ersten Mal gelesen. Kannst du ihn kurz erläutern?
Wie „Food Porn“ bezeichnet der Begriff die ausschließlich ästhetisierte Hochglanzdarstellung – in diesem Fall von Ruinen. Das hat meist wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Hintergründe, Ursachen und auch die Bewohner*innen dieser Gegenden werden dabei ganz ausgeblendet. Der Begriff „Ruin Porn“ geht auf den Detroiter James D. Giffioden zurück, der sich 2009 darüber aufregte, dass er Journalist*innen den ganzen Tag durch Detroit führte und sie am Ende doch nur die Ruinen fotografierten1 In diesem Sinne mache ich das Gegenteil von „Ruin Porn“. Mich interessiert das Potential dieser Orte als Freiraum aber auch deren historischer Kontext und die Hintergründe, warum sich diese Stadtlandschaft sich so entwickelt hat.
In den Texten, die du zu den einzelnen Bildern geschrieben hast, fächerst du diese historischen Kontexte auf und beschreibst, wie die Brachen als Gemeinschaftsgärten genutzt werden, die Gemeinschaft stiften, Arbeitsplätze schaffen und der Nahversorgung dienen. Wie sehr hat dich bereits beim Fotografieren der Wunsch angetrieben, diese gesellschaftlichen Verhältnisse abzubilden?
Beim Fotografieren zuerst noch gar nicht. Die Fotos sind sehr eigenständig entstanden und stehen auch so im Buch. Bei der Auswahl der Orte wurde es mir später jedoch immer wichtiger, die kulturelle Vielfalt Detroits mit einzubeziehen.
Die Themen der sozialen Ungerechtigkeit und Rassismus in Bezug auf Grundstücksbesitz und auch Zugang zu Lebensmitteln oder Wasser kamen durch die Textrecherche. Erst dadurch wurden mir die historischen Wurzeln von dem, was heute passiert, bewusst. Und so ist es im Buch auch dargestellt, man kann diese Hintergründe anhand der Texte nachvollziehen.
Das Buch enthält neben zahlreichen Fotos ein Register (von Albert Kahn bis Weltwirtschaftskrise), kurze Bild- bzw. Ortsbeschreibungen und beginnt mit einem Verzeichnis aller im Buch vorkommenden Pflanzen, wobei du für die unterschiedlichen Inhalte verschiedene Papiere verwendest, was ich sehr schön finde. Ergänzt wird die Textebene durch Zitate, die du Büchern und Gesprächen entnommen hast. Mich erinnert dieser Aufbau und die sachliche Art der Texte an Nachschlagewerke wodurch das Buch ein bisschen ein Hybrid aus Künstlerin- und Sachbuch ist. Wie würdest du diesen Eindruck kommentieren? Und würdest du in Bezug auf deine Arbeit von künstlerischer Forschung sprechen?
Es ist durchaus ein Erforschen, ein Studium von Orten, die ich mag – als Freiräume und Naturräume. So fing es sehr 2010 eher beiläufig an. Neben den Fotografien kamen dann sehr schnell auch die Botanik, Industriegeschichte und speziell in Detroit amerikanische Stadtsoziologie und Politik dazu, und so wurde es immer komplexer. Diese Komplexität habe ich versucht im Buch darzustellen. Je mehr man über einen Ort weiß, desto mehr verändert sich ja auch sein Blick auf ihn. Er wird differenzierter und zugleich weiter. Das möchte ich natürlich weitergeben, und so ist das Buch sehr vielschichtig zu lesen.
Ich finde das funktioniert sehr gut! Mir sind beim Schauen zwei Sachen aufgefallen: dass es wirklich eine grüne Stadt ist, und dass die verschiedenen Ebenen, die du gerade aufgezählt hast, sehr beiläufig ins Bild gesetzt sind. Du verzichtest nicht nur auf die klassischen Industrieruinenbilder, sondern auch auf Bilder von Infrastrukturen, Menschen, Geschäften. Man könnte glauben, Detroit würde nur aus Brachen und Gärten entstehen! Wenn man aber genauer schaut – und die Texte dazu liest – schließen sich diese ganzen Ebenen von Grundstückspolitiken, Selbstorganisation und Bodenkontamination als Folge der industriellen Nutzung auf und man beginnt noch mal genauer zu schauen.
Natürlich gibt es in Detroit nicht nur Brachen, sondern auch Downtown und Midtown mit Hochhäusern, viktorianischen Villen und einer „normalen“ Infrastruktur mit einer neuen Straßenbahn, einer Universität, Krankenhäusern etc. Die gibt es aber eben nur dort – auf 2 von insgesamt 139 Squaremeilen. Der überwiegende Teil sind Wohngebiete ohne diese Infrastrukturen, und manche bestehen durch die große Abrisswelle seit 2010 zum Großteil aus Brachen. Zudem besteht das Projekt ja auch darin Brachen zu dokumentieren.
Als letzte Frage würde ich gerne wissen, woran du zur Zeit arbeitest? In Berlin werden die Brachen und Freiflächen ja immer weniger, was die Gefahr eines nostalgischen Blickes birgt, wenn man sich mit ihnen beschäftigt…?
Detroit und Bitterfeld sind Teile meines Langzeitprojektes „The New Wild“ über postindustrielle Landschaften, das ich 2010 begonnen habe. Die ersten Bilder sind in Leipzig entstanden. Durch Bombenlücken des Zweiten Weltkriegs oder abgerissene Fabriken nach der Wende 1989 war die Stadtstruktur hier sehr durchlässig, perforiert, wie es vor 20 Jahren hieß. Wildwuchs konnte ungestört stattfinden, die Stadt war ungewöhnlich grün womit sie im Stadtmarketing gern geworben hat. Seit der Finanzkrise ist auch hier wie in vielen Städten eine ungehemmter Bauboom ausgebrochen. Die „Leerstellen“ sind fast alle geschlossen, die Stadt wird quasi versiegelt. Bäume, Brachen und Nachbarschaftsgärten sind zugunsten von Eigentumswohnungen, Stadthäusern und Parkplätzen verschwunden, die Mieten explodieren. Dieses Verschwinden finde ich weniger nostalgisch, sondern vor dem Hintergrund einer zukünftigen Stadt destruktiv und gar dramatisch. Es wird nicht nur Lebensqualität regelrecht verbaut, sondern auch der Grundstein für ein heißeres, trockeneres Stadtklima gelegt, das einen erhöhten Energieverbrauch zu Folge hat. Bäume sind ja nicht nur schön grün, sondern auch Luftfilter, Wasserspeicher und Kühlaggregate. In diese Richtung wird es sicher auch eine Publikation über Leipzig geben, die Stadtnatur nicht nur dokumentiert, sondern auch dazu beitragen soll, sie als Lebensgrundlage wert zu schätzen.
1 Siehe Morton, Thomas: "Something, Something, Something, Detroit“, Vice Magazine Online, August 1, 2009 https://www.vice.com/en_us/article/ppzb9z/something-something-something-..., abgerufen am 13.10.2015.