Mitten drin draußen

Schwerpunkt: Obdachlos

Mitten drin draußen

Dieter lebte obdachlos am Savignyplatz und ist heute bei querstadtein als Stadtführer tätig
Fotografie und Interview: Matthias Coers

In der Ausstellung Mitten drin draußen - Ohne Obdach in der Stadt des Filmemachers und Fotografen Matthias Coers im Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung waren Fotografien von Berliner*innen ausgestellt, die auf unterschiedlichen Weisen mit Obdachlosigkeit zu tun haben - sei es, weil sie auf der Straße leben oder weil sie sich für Betroffene engagieren. Die Fotografien werden ergänzt mit Protokollen von Interviews, die Matthias Coers zu Statements umformuliert hat. Die Geschichte von Dieter verbindet beide Perspektiven.


"Fünf Prozent der Obdachlosen sind freiwillig auf der Straße, meistens die ganz jungen Menschen zwischen 14 und 25. Die wollen das Straßenleben austesten als Freiheitszone. Es gibt aber keine Freiheitszonen. Du bist auf der Straße mehr von anderen Menschen abhängig als irgendwo anders.

 

Obdachlos oder Unterstützer? Wenn man mich einkategorisieren möchte, müsste man mich dazwischen einkategorisieren. Obdachlos war ich, dreieinhalb Monate lang, hat mir gereicht. Ich mache heutzutage Stadtführungen über meine Obdachlosigkeit. Aber ich bin auch ehrenamtlich tätig in Obdachloseneinrichtungen und das bis zu 30 Stunden die Woche. Wo Obdachlose fragen, wie ihnen geholfen werden kann. Und ich werde da öfter angequatscht als die Sozialarbeiter, weil ich das Straßenleben miterlebt habe. Die Sozialarbeiter können von ihrer Connection her besser vermitteln, das kann ich nicht. Aber ich kann besser zuhören als die Sozialarbeiter. Vor allem weiß ich auch, wie der Mensch auf der Straße lebt. Der Mensch auf der Straße ist mit den normalen Menschen nicht vergleichbar. Sagen wir, du bist vier Wochen obdachlos, irgendwann gewöhnst du dich an folgenden Takt: Du bewegst dich von deiner Stelle so wenig wie möglich weg. Das bedeutet aber, die Muskulatur in den Beinen geht unglaublich schnell zurück. Für mich waren damals 50m wie heute 5km. Heute laufe ich die Tour, die gesamte Strecke meiner Stadtführung beläuft sich auf 4,2km, in einer halben Stunde. Früher hätte ich dafür mindestens einen Tag gebraucht, weil ganz einfach die Muskulatur nicht mehr da ist. Und stückchenweise geht es dann immer weiter runter. Irgendwann kommt Alkohol oder irgendeine beschissene Droge dazu. Dazu sag ich auch gleich: die tschechische Grenze ist nicht weit, da kriegst du Crystal, den ganzen Scheiß für 1,50 bis 3,50€ zu kaufen.

 

Mein Konzept gegen Obdachlosigkeit sähe so aus: Der Staat müsste sich wirklich rühren als Geldgeber. Jedes Bundesland würde sich vornehmen, 500 Obdachlose von der Straße zu holen. Dann einen leerstehenden Komplex nutzen, hier in Berlin z.B. nahe Karlshorst, da gibt es einen alten Telekom-Komplex, zu Flüchtlingszeiten waren 1.300 Menschen dort, da können bis zu 600 Menschen locker unterkommen. Dort müsste es eine Tischlerwerkstatt, ein Küchenstudio, eine Nähwerkstatt, ein kleines Restaurant geben. Und alles von den Obdachlosen betrieben. Erstens haben sie dann was zu tun und zweitens würde sich irgendwann dieses Konzept auch tragen, man muss dem nur eine Chance geben. Denn ein Mensch ohne Aufgabe – das ist logisch, dass der vor sich hinlebt. Das wäre schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.

 

Aber ich sag dir, die Obdachlosigkeit ist uralt. Die gab es schon im alten Ägypten. Und wenn es hier auf diese Art und Weise weitergeht, wird es die noch in 1000 Jahren geben.

Wir haben Schätzungszahlen – 2014 hatten wir eine Schätzungszahl von 24.000 Obdachlosen in ganz Deutschland. Vorheriges Jahr im Dezember wurden dann ca. 50.000 Obdachlose geschätzt. Das ist mehr als das Doppelte in vier Jahren.

Bei Wohnungslosen ist die Zahl bedeutend höher. Die letzte Schätzung liegt bei 1,5 Mio. für ganz Deutschland. Die hätten vielleicht noch mal eine Chance auf eine Wohnung. Bei Obdachlosen haben vielleicht 10% eine Chance. 90% aller Obdachlosen haben Süchte und haben Schulden. Versuch da mal, eine Wohnung zu kriegen.

 

Meine Wohnung wurde damals von meinem Vermieter für sich genommen, Eigenbedarfskündigung. Ich hatte damals einfach nicht genug Zeit, eine neue zu finden und wenn das Jobcenter einem nur eine Wohnung gibt, die genauso billig ist, dann wird es schon schwierig. Und wenn das Ausziehen dann kurz bevorsteht, überlegt man – entweder du gehst zu deinen Freunden und Bekannten und schläfst da. Das war nicht mein Ding. Warum soll ich die mit meiner Situation belästigen, das sehe ich nicht ein. Dann gibt es die Möglichkeit, ins Wohnheim zu gehen. 20qm großes Zimmer klingt nicht schlecht, aber wenn du dann mit 5 anderen Leuten auf dem Zimmer wohnen sollst, möglicherweise jahrelang, und die meisten, die ich kenne, kommen da gar nicht mehr raus. Ich habe mich dann freiwillig für die Straße entschieden. Denn eine Zwangsräumung ist nicht gerade angenehm und ich bin raus, bevor sie kam. Meine Sachen – alles drin gelassen, das bereue ich sehr, da die Wohnung heute immer noch leer steht. Das war 2012.

 

Aus der Situation rausgekommen bin ich wieder durch einen Polizisten am Bahnhof Zoo. Der hat gesehen, dass ich keinen Alkohol, keine Drogen, kein Nichts genommen habe, dass ich auf der Straße saß und Bücher gelesen habe. Da hat er mich gefragt, ob ich auf der Straße sterben möchte. Da ich das verneint habe, hat er mich mit in die Bahnhofsmission genommen und hat fast eine halbe Stunde den Sozialarbeiter betaktet, so dass ich dann in betreutes Einzelwohnen kommen konnte.

 

Heute mach ich Stadtführungen zu Obdachlosigkeit. Fünf- bis siebentausend Menschen haben da schon mitgemacht und wenn ich nicht aufhöre, schaff ich noch mal die selbe Zahl. Auch habe ich inzwischen durch direkte Unterstützung neun Obdachlose Jugendliche in den letzten Jahren von der Straße runtergeholt. Vier wurden von ihren Eltern missbraucht. Ich würde sagen, 50% der jugendlichen Obdachlosen sind freiwillig obdachlos. Jugendliche müssen in Deutschland nicht obdachlos sein. Die sind jung, die haben Kraft, die haben Potential im Gehirn. Da fehlen Stellen, wo sich die Jugendlichen hinwenden können, bevor es auf die Straße geht. Mit 16 kann man aus der Schule rausgehen und einen Job lernen.

Ich habe ursprünglich den Facharbeiter für Straßenbautechnik mit Spezialisierung zum Mosaikpflasterer gelernt. Den Job kann ich nicht mehr ausüben, da ich fünf Bandscheibenvorfälle hatte."

Berlin, Oktober 2018

 

Die Ausstellung ist bis Ende Januar 2019 im Foyer des Kleinen Hauses des Berliner Ensembles zu sehen.

 

 

Kurzbeiträge

Einwürfe

Spaces of Solidarity Der Kiosk of Solidarity macht Station in einer Ausstellung im Deutschen Architektur Zentrum
Parasite Parking Logbuch einer öffentlichen Intervention von Alexander Sacharow und Jakob Wirth

Fundsachen

The Black Triangle 360 schwarze Dreiecke in Wien dokumentiert von Peter Schreiner
found footage-sculptures Patrick Borchers unterwegs in Neapels Straßen

Straßenszenen

Asphaltrisse Risse in Berliner Straßen fotografiert von Heide Pawlzik.
Neun falsche Hennen Die Welcomecitygroup feiert Junggesellinenabschied auf der Reeperbahn in Hamburg
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Die Fotos und der Text stammen au

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