"Fotografiert von einem Menschen ohne Wohnung"

Schwerpunkt: Obdachlos

"Fotografiert von einem Menschen ohne Wohnung"

Ein Bericht von der Straße
Fotos: S.L.; Text: S.L., Mio Okido und Anna-Lena Wenzel

»Fotografiert von einem Menschen ohne Wohnung« ist ein Projekt von Mio Okido, das im Rahmen von »Kunst im Untergrund 2018« entstanden ist. Dieses Projekt feiert dieses Jahr sein 60-jähriges Jubiläum, denn 1958 wurden erstmals Plakate auf den Hintergleisflächen der U-Bahn-Gleise ausgestellt. Ging es damals darum Plakate für den Frieden zu entwerfen, hat sich Mio Okido dieses Jahr dem Thema Wohnungslosigkeit gewidmet. Sie hat dafür verschiedene Hilfseinrichtungen aufgesucht und an drei Menschen Fotokameras und schwarz-weiß Filme verteilt, mit denen diese Fotos machen konnten. Eine Auswahl von drei Motiven wurde vom 28. September bis zum 4. Oktober als Plakate auf den Werbeflächen der U-Bahn Linie 5 am Alexanderplatz gezeigt. Weil im Rahmen des Projektes jedoch noch viel mehr Fotografien entstanden sind, die Mio Okido um persönliche Geschichten der Personen ergänzt hat, veröffentlichen wir an dieser Stelle die Geschichte und die Motive von S.L., die auf der Straße gelebt hat.


Alexanderplatz

Der Alexanderplatz ist ein Ort für Jugendliche, die auf der Straße leben, und eigentlich ein sehr schöner Platz. Momentan ist es dort aber schwierig, weil in der Nähe vom Galeria Kaufhof eine Polizeistation aufgebaut wurde. Dadurch gibt es mehr Polizeimaßnahmen und viele Jugendliche und Erwachsene von früher sind nicht mehr da. Früher hatte man am Alex eine Wiese an der Marienkirche, die umgebaut worden ist. Die Wiese gehörte zum Kirchengelände, da konnte die Polizei nix machen. Solange die Kirche nicht gesagt hat, dass wir gehen sollen, durften wir bleiben. Da konnten Jugendliche sich mit Freunden treffen, konsumieren und Spaß haben. Da waren auch ganz normale Menschen, die aber mehr durchgehabt haben. Manche sind da hingekommen, weil ihnen alles weggenommen wurde, oder durch andere Sachen. Und ja, die Menschen sind da einfach viel netter. Die wussten eigentlich mehr übers Leben Bescheid als andere. Heutzutage findet man so ’ne Menschlichkeit nicht mehr.

 

Also, am Alexanderplatz sind viele Jugendliche und Erwachsene sowie auch teilweise Kinder, die dort ihre Zeit verbrachten. Der Alexanderplatz ist irgendwann vor 50 Jahren gegründet worden, wo Leute hingegangen sind wie Punks, Goths, Emos, normale Leute, aber auch Schwule, Lesben und Trans. Also, wir waren eine super Gruppe. Aber Jahr für Jahr wurden es immer weniger. Was ich einerseits verstehen kann, aber anderseits nicht, sind die Eltern der Kinder. Die sind da immer dagegen gewesen, dass man da am Alex chillt, weil es so viel Gewalt und Drogen gibt. Aber Drogen sind überall. Jeder weiß, wo man Drogen herbekommen kann. Es gibt auch andere dämliche Plätze wie Kottbusser Tor oder Görlitzer Bahnhof, der Park, oder noch andere Bezirke, wo nicht so’n Aufriss gemacht wird. Nur weil der Alex die Mitte des Zentrums ist, machen die so’nen Aufstand. Es kommt darauf an, ob die Polizei Langeweile hat oder nicht. Es kann sein, dass sie uns dann kontrollieren und sagen, dass der Junge was gemacht hat, obwohl das gar nicht so stimmt. Einer hat sogar einen Polizisten getroffen, der gesagt hat, dass wir die Zigaretten ausmachen sollen, weil er nicht unterscheiden konnte, ob das ein Joint oder eine Zigarette ist. Es gibt viele Vorurteile und viele gehen sehr aggressiv an die Sachen ran, anstatt einfach zu fragen. Wozu hat man einen Mund zum Reden? Man sollte den auch einsetzen, bevor man irgendwie gewalttätig wird. Man sollte nicht gleich irgendjemandem Handschellen anlegen und ihn auf den Boden drücken dürfen. Letztens haben fünf Männer einen Menschen auf den Boden gedrückt, obwohl er nichts gemacht hat. Andersrum ist es auch wieder gut, dass sie da sind, weil Sachen vorgefallen sind, die wirklich sehr haarscharf waren, so dass Menschen ihr Leben hätten verlieren können. Dann ist es wieder ganz gut, dass sie recht schnell gekommen sind. Jede Sache hat immer was Positives und was Negatives, ganz einfach. Wie gesagt, auf dem Platz, wo man chillt, sind gute Leute und auch schlechte Leute sowie schlechter Umgang und guter Umgang. Man hat immer selber die Wahl, irgendwie darüber zu entscheiden, welchen Weg man geht.


Homosexualität

Ich möchte nicht ewig in Berlin bleiben, weil ich zu einer homosexuellen Szene gehöre. Obwohl wir jetzt besser angesehen werden, wurden wir früher in der Schule gemobbt oder es gab manchmal Prügel, weil Menschen, z. B. Rechtsextreme, aber auch normale Menschen, nicht damit klar kamen. Das war schon sehr schwer, aber heutzutage kann man sich zeigen. Das ist gut so. Dafür stehen wir auch ein. Es gibt einmal im Jahr die CSD-Demonstrationen überall in Deutschland und auch in anderen Ländern. Die sind dafür, dass Homosexuelle akzeptiert werden. Auch viele weitere Leute, die sich anders orientieren, können sich als Demonstrant*innen hinstellen und sagen: „so bin ich“, sodass keiner sagen kann: „guck mal die an“ oder „das ist doch eklig“. Die sind einfach so, wie sie sind, so sind sie am besten. Manche Menschen stellen sich höher, aber sie sind es nicht. Manche Menschen sind anders orientiert, aber da ist doch nix Böses dran. Trotzdem sind sie Menschen. In manchen Vierteln in Berlin ist es schlecht angesehen. Man sollte ein bisschen aufpassen, aber man soll so leben, wie man leben möchte. Da hat keiner was dazu zu sagen, weil jeder sein eigenes Leben in den Griff kriegen muss. In diesem Sinne ist’s in Berlin lockerer geworden, aber ich will weg, weil es immer mehr Gewalt gibt.

 

Die Wiener Straßenmutti

Meine Mutter hat mir gesagt, wenn man jetzt auf Wohnungssuche ist, soll man „wohnungslos“ schreiben oder „wohnungslos“ angeben, denn wenn man „obdachlos“ sagt, haben alle sehr viele Vorurteile, egal was ein Mensch anzieht, egal wie ein Mensch denken mag. Jeder hat trotzdem eine Persönlichkeit. Früher war ich auch manchmal nicht so gut auf obdachlose Menschen zu sprechen, weil manche mich angefasst haben und ich wusste nicht, ob die irgendwelche Krankheiten haben. Heutzutage ist das aber ein bisschen anders, weil ich weiß, wie Leben auf der Straße ist, und dass man nichts hat und sich alles irgendwie aufbauen muss.

Ich hatte früher eine junge Dame – ehrlich gesagt war sie schon etwas älter – die war die Wiener Straßenmutti für mich. Sie hat mich aufgenommen und gesagt, dass ich jetzt mitkommen soll. Aber ich war mir erst nicht ganz sicher, weil ich doch sehr respektlos war und dachte, „was will die Alte jetzt von mir?“ Dann hat sie mich zu ihrer Gruppe gebracht, wo die auch geschlafen, gegessen und alles Mögliche gemacht haben. Nach und nach war es so, als wären wir eine Familie. Es gab auch immer welche, die mich nicht mochten, aber damit kam ich klar, weil ich wusste, dass es auch welche gab, die mich mochten und so akzeptierten, wie ich war. Wenn ich meine Straßenmutti nicht gehabt hätte, dann weiß ich auch nicht, ob ich überhaupt noch da wäre. Es gab schon harte Zeiten, aber man hat immer die Wahl: zu fallen, einfach nichts mehr zu tun, oder aufzustehen. Da muss man sich nicht wundern, wenn man irgendwann nicht mehr derselbe ist oder gar nicht mehr so ist. Ich finde diese Vorurteile sehr schlimm gegenüber Menschen, die wirklich eine Vision verloren haben und dadurch abgestürzt sind, oder denen alles weggenommen wurde. Es gibt natürlich Menschen, die durch ihr Eigenverschulden dahin gekommen sind. Aber im Endeffekt sind sie auf der Straße, sie brauchen Hilfe und viele werden mit Füßen getreten und das finde ich nicht gut. Man muss ja nichts beisteuern. Keiner ist zu etwas verpflichtet, aber wenn man Geld hat und nicht weiß, was er mit dem Geld anfängt, wie er Sachen und Klamotten in verschiedenen Größen kauft, aber nicht mehrfach benutzt und einfach mal in den Mülleimer wegschmeißt, dann kann er zu Obdachlosen gehen und fragen, ob die vielleicht Anziehsachen brauchen, oder einfach mal gucken, wer jetzt gerade was benötigt. Ich würde so es machen, wenn ich eine Millionen Euro hätte. Ich würde vielleicht sogar noch eine eigene Organisation aufbauen und gründen, wo die Obdachlosen mehr Hilfe bekommen. Klar, es gibt immer Vor- und Nachteile. Man weiß nie, ob die viel lügen oder sich das Leben schön reden, damit sie bekommen, was sie möchten. Aber manche wollen wirklich von der Straße weg und daran sollte man arbeiten. Man hat immer Möglichkeiten aus der Sache rauszukommen.

 

Solidarität

Auf diesem Bild sieht man den Bus von der KuB, die Kontakt- und Beratungsstelle für Jugendliche und Kinder bis zu 21 Jahren, teilweise sogar darüber hinaus. Die KuB gibt viele Ratschläge, wo man hingehen kann. Für die Jugendlichen und Heranwachsenden ist die KuB sehr gut. Sie sind jeden Montag, Donnerstag und Freitag am Alex und verteilen kaltes Essen, also Brote und Säfte, damit man sich in der Gruppe zusammensetzen kann. Sie haben auch hygienische Sachen wie Lotionen. Die Personen auf dem Bild sind sehr herzlich, mit denen kann man viel quatschen und Spaß haben, aber sie bleiben auch ernst im Thema. Die wissen ganz genau, worauf es ankommt. Und ja, ich mag die alle sehr gern, weil die, die am Boden liegen, mehr Menschlichkeit zeigen als Leute, die reich sind, oder einfach alles haben können und haben. Ich weiß nicht, warum die Menschlichkeit manchen so fehlt.

Auf dem Bild sieht man, ob jemand überhaupt Schuhe trägt. Es gibt ja auch Punks, Emos und auch Leute, die sich Klamotten auf der Straße suchen oder in Hilfswerke gehen, wo es Kleiderspenden gibt. Da können sie sich Klamotten rausholen. Aber es gibt auch Leute, die gar keine Schuhe tragen und einfach so leben, wie sie leben wollen. Ich finde es stark, dass sie so rumlaufen möchten und so rumlaufen können, weil selbst Menschen ohne Besitz nicht so rumlaufen würden, denke ich mal. Hier sieht man welcher Mensch wie lebt, also in welche Richtung der Mensch sozusagen emotionsmäßig hingeht, die sind wirklich sehr nett.

 

Hackescher Markt

Hier sieht man den Hackeschen Markt. Das ist ein schöner Platz für Leute, die keine Lust mehr auf den Alexanderplatz haben, weil da einfach mehr Gewalt herrscht und viel Stress ist. Ich habe keine Lust auf Stress. Der Hackesche Markt bietet sich an, weil es wirklich ein sehr schöner Ort ist. Da hat man die Säulen, so nennen wir die, da können wir uns drunter stellen, falls es regnet oder es kalt ist. Was man auf dem Bild nicht sieht, ist eine Wiese auf der jeden Monat ein Gruppentreffen stattfindet. Dazu kommen Menschen aus verschiedenen Städten her, zum Wiedersehen oder einfach wegen dem Treff. Früher war der Treff am Hauptbahnhof und dann wurde er zum Hackeschen Markt verlegt. Es gibt auf der rechten Seite mehrere Art Strandbars, wo man hingehen kann, oder Restaurants und man hat viele Möglichkeiten, irgendwas zu machen oder sich hinzusetzen. Egal wo man da hingeht, man ist immer noch in der Nähe vom Alex, wo die Verkehrsmöglichkeiten besser sind.

 

Hauptbahnhof

Am Hauptbahnhof waren früher viele Leute, ich war da auch sehr oft. Das war in meiner Drogenphase, als es sehr schwierig war auf dem Alex, weil ich ein Jahr lang viel Scheiße durchhatte. Und der Hauptbahnhof war dann das Einzige, das mir einfach meine Ruhe geboten hat. Heutzutage würde da keiner mehr hinfahren, weil es einfach zu weit weg ist.

 

Kurzbeiträge

Einwürfe

Nolli lesen Kathrin Wildner und Dagmar Pelger sprechen darüber, wie man Karten liest
Die Mission. Kunst gegen Kälte 1997–2022 Anna Ulmer guckt im Gespräch mit Rudolf Goerke zurück auf die Obdachloseninitiave "Die Mission" in Hamburg
Spaces of Solidarity Der Kiosk of Solidarity macht Station in einer Ausstellung im Deutschen Architektur Zentrum

Fundsachen

OZ in Erinnerung Für „OZ: in memoriam“ hat sich Mary Limo
The Black Triangle 360 schwarze Dreiecke in Wien dokumentiert von Peter Schreiner

Straßenszenen

Zu Gast im 24. Stock Zu Gast bei Algisa Peschel, Stadtplanerin und eine der Erstbewohnerinnen des DDR-Wohnkomplexes in der Berliner Leipziger Straße
10 Tage Jerevan Notizen ihres 10-tägigen Aufenthalts von Anna-Lena Wenzel
Glitches GLITCHES ist die Bezeichnung für eine Re

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man an der spanischen Touristikküste Architektur- und Reiseeindrücke von 2023/24 von Benjamin Renter, der an der spanischen Mittelmeerküste den Einfall der Investitionsarchitektur festgehalten hat.
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man im Olympiapark 1953 begonnen Timofej Wassiljewitsch Pro