„Wir waren draußen, wenn keiner draußen war“
„Wir waren draußen, wenn keiner draußen war“
Über das Vermittlungsprojekt JUNGE GRUPPE KUNST der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig.
Anna-Lena Wenzel im Gespräch mit Michael Barthel, Johanna Bölke, Lena Seik und Hanna Thuma
Anna-Lena Wenzel: Euer Vermittlungsprojekt fand während der Corona-Pandemie statt. Könntet ihr kurz erzählen, was ihr im Sommer 2021 mit den Jugendlichen gemacht habt, bevor wir darüber sprechen, wie sich die Pandemie-Beschränkungen auf eure Pläne ausgewirkt haben?
Lena Seik: Die Junge Gruppe Kunst traf sich für zwei Monate von Mai bis Juni, jeden Mittwoch an einem immer anderen Ort in Leipzig. Es ging darum, Kunst im öffentlichen Raum der Stadt zu untersuchen und diese Orte mit anderen, aufmerksameren Augen zu betrachten. Oftmals waren Skulpturen der Ausgangspunkt, aber ebenso Straßen, Parks, Brachflächen, verschiedene Stadtteile, das Gelände der Alten Messe und das Völkerschlachtdenkmal. Wir führten künstlerische Übungen und Aktionen durch und entwickelten eigene Fragen zur jeweiligen Umgebung. Was ist Kunst überhaupt? Wer bestimmt das? Was kann Kunst? Entstanden sind Fotografien, Zeichnungen und Haikus, Objekte und Frottagen vorgefundener Dinge. Eine performative Übung war zum Beispiel eine künstlerische Aneignung zum Völkerschlachtdenkmal. Vor der Krypta entstand ein Chor, der das Wort „Frieden“ in den Sprachen der Teilnehmenden sang: Arabisch, Spanisch, Bosnisch und Deutsch. An einem anderen Ort wurden Objekte aus lufttrocknender Modelliermasse gefertigt, mit unseren Monogrammen versehen und später im Stadtgebiet hinterlassen. In den vier Stunden des Workshops war das Picknick auch immer ein wichtiger Teil des Zusammenseins, des Austauschs und der Reflexion. Es wurden viele Handyfotos gemacht, die später in der gemeinsamen Chatgruppe geteilt wurden. Das war auch nochmal ein reflexiver und bewusstseinsstiftender Moment. Zur Dokumentation und Sichtbarmachung des Projekts benutzten wir ein Padlet, in dem Fotos und Ergebnisse der Teilnehmenden angeordnet sind. Hier können die einzelnen Orte und Stationen nachvollzogen werden. Und es entsteht ein Eindruck zur Atmosphäre in der Jungen Gruppe Kunst, die wirklich sehr harmonisch und kreativ war.
Da die Teilnehmenden aus verschiedenen Kontexten und Ländern kamen, hat sich unser aller Fokus auf das, was wir sahen und machten, durch den gegenseitigen Austausch ständig erweitert. Alle haben mit den eigenen Erfahrungen und der mitgebrachten Perspektive auf den Leipziger Stadtraum reagiert.
ALW: Wie wurde das Projekt durch die Corona-Pandemie beeinflusst?
Johanna Bölke: Zu Beginn war noch nicht klar, ob oder in welcher Form das Projekt stattfinden kann. Dann wurde das Konzept angepasst, – statt musealen, institutionellen (Innen-)Räumen haben wir Kunst im Außenraum entdeckt und kennengelernt. Teilweise verhält man sich ja auch ganz anders im Freien als drinnen, in einem Museum oder in einer Galerie.
Der Außenraum und die Stadt sollen ja allen gehören, und wir haben als Gruppe erforscht und getestet, wie man sich diesem an sich bekannten Raum nähern kann. Dort haben wir Sachen ausprobiert und verändert, die man vielleicht so nicht sofort machen würde – oder sich dann doch nicht alleine traut …
Mit den Treffen draußen in der Stadt haben sich also auch die Fragen geändert, mit denen wir an die Orte und Skulpturen herangegangen sind.
Der Aspekt des Sammelns wurde im Laufe der Treffen wichtig. Dinge, die wir vor Ort fanden. Einige Aktivitäten haben sich dadurch ganz spontan ergeben. Auch haben wir immer wieder persönliche, mitgebrachte Objekte an unterschiedliche Orte im Außenraum installiert. Auf dem Jahrtausendfeld, einer seit Jahren existierenden Brachfläche an der Karl-Heine-Straße im Stadtteil Plagwitz, wurden die Objekte auf selbstgebaute Sockel gelegt, sie in Bezug zum Raum, den anderen Objekten und auch zu uns selber gesetzt. Auf der Karl-Liebknecht-Straße in der Südvorstadt haben wir die Objekte in Beziehung zu den Schaufenstern der vielen Geschäfte assoziiert.
Dass wir bestimmte Straßenzüge auf diese Weise erforschen und kennenlernen konnten oder uns aus einem anderen Blickwinkel mit den Dingen beschäftigt haben, die die Gruppe spannend fand, lag vielleicht auch an dem flexiblen Konzept.
ALW: Wie habt ihr den öffentlichen Raum während der Corona-Pandemie wahrgenommen? Wie hat er sich verändert?
Hanna Thuma: Bedingt durch die Pandemie konnten unsere Treffen nur draußen stattfinden. Deshalb waren wir auch bei schlechtem Wetter, wenn man sonst nicht raus gehen würde, auf den Straßen unterwegs. Wir haben dadurch den öffentlichen Raum auf eine neue Weise erleben können. Wir waren draußen, wenn keiner draußen war. Anfangs haben wir zwar auch gefroren, aber gerade diese Einsamkeit bot uns viele Möglichkeiten. Einerseits konnten wir den offenen Raum viel aufmerksamer, ohne Druck, betrachten und uns andererseits viel freier bewegen und Neues ausprobieren, da wir uns weniger beobachtet fühlten.
Auf der sonst sehr belebten Karl-Liebknecht-Straße haben wir uns die dort sehr präsente Skulptur „Familie“ von Rudolf Oelzner durch performative Aktionen angeeignet. Das schlechte Wetter hat uns dabei eher geholfen, – die wenigen Menschen auf der Straße waren mehr damit beschäftigt, schnell von A nach B zu kommen, als uns zuzuschauen.
Während der Laufzeit unseres Projekts sanken die Fallzahlen der Corona-Pandemie in der dritten Welle, und mit dem beginnenden Sommer wurde der öffentliche Raum wieder belebter. Unseren Aktivitäten auf einer lebendigeren Straße weiter nachzugehen, hat uns zwar ganz anders herausgefordert, aber wir waren auch schon gut geübt. Am Ende waren wir alle der Meinung, unser Selbstbewusstsein gestärkt zu haben.
ALW: Was würdet Ihr sagen, haben die Teilnehmenden von den Workshops mitgenommen?
Michael Barthel: Vor allem die Sensibilisierung für den Stadtraum. Sowohl für das, was in ihm zu sehen ist, wie auch für das, was zu hören ist. Für Dinge, an denen sonst vielleicht immer nur vorbeigelaufen wird und die als gegeben genommen werden. Beispielsweise haben wir mit der Klangkünstlerin Anna Schimkat einen Audiowalk durch den Leipziger Stadtteil Lindenau gemacht und uns diesen auf akustische Weise erschlossen – durch das Zuhören an und von Orten, oder einer Intervention, bei der mit dem Schlagen von Löffeln an Zäunen und Geländern Töne und Rhythmen erzeugt wurden. Es ging immer auch um die Selbstermächtigung im Stadtraum, die auch an anderen Workshoptagen durch z.B. selbst gestaltete Aufkleber thematisiert wurde. Wir haben unsere an Mülltonnen nahe der Galerie für Zeitgenössische Kunst angebracht, die schon lange mit massig Stickern voll geklebt waren. Auch wurde anhand der Mülltonnen der Skulpturenbegriff immer wieder erweitert. Sowohl in der Frage „Was alles kann eine Skulptur sein?“, wie auch, dass durch das Verrücken der Mülltonnen ein Skulpturenensembles entstand, das im nächsten Augenblick durch ein weiteres Verrücken gleich wieder verändert wurde. Der eigene Körper im Stadtraum wurde ebenso thematisiert und es wurden „Menschliche Skulpturen“ auf dem ehemaligen Messegelände geschaffen. Aus der „Liegenden Gruppe Kunst“ wurde die „Junge Gruppe Kunst mit einem Bein in die Höhe“, aus „Frohe Gruppe Kunst“, wurde die „Müde Gruppe Kunst“ usw.
Dadurch, dass von den Teilnehmenden auch selbst Orte vorgeschlagen wurden, um sie beim nächsten Mal zu besuchen, sie zu erkunden und zu ihnen zu arbeiten, gab es eine Auseinandersetzung und ein Sensibilisieren auch für die Stadtteile, in denen die Teilnehmenden wohnten.
Vielleicht wird heute also aufmerksamer in den Stadtraum geschaut und auf dessen Geräusche gehört.
Mehr Fotos der JUNGE GRUPPE KUNST gibt es hier.
Lena Seik: Die Junge Gruppe Kunst traf sich für zwei Monate von Mai bis Juni, jeden Mittwoch an einem immer anderen Ort in Leipzig. Es ging darum, Kunst im öffentlichen Raum der Stadt zu untersuchen und diese Orte mit anderen, aufmerksameren Augen zu betrachten. Oftmals waren Skulpturen der Ausgangspunkt, aber ebenso Straßen, Parks, Brachflächen, verschiedene Stadtteile, das Gelände der Alten Messe und das Völkerschlachtdenkmal. Wir führten künstlerische Übungen und Aktionen durch und entwickelten eigene Fragen zur jeweiligen Umgebung. Was ist Kunst überhaupt? Wer bestimmt das? Was kann Kunst? Entstanden sind Fotografien, Zeichnungen und Haikus, Objekte und Frottagen vorgefundener Dinge. Eine performative Übung war zum Beispiel eine künstlerische Aneignung zum Völkerschlachtdenkmal. Vor der Krypta entstand ein Chor, der das Wort „Frieden“ in den Sprachen der Teilnehmenden sang: Arabisch, Spanisch, Bosnisch und Deutsch. An einem anderen Ort wurden Objekte aus lufttrocknender Modelliermasse gefertigt, mit unseren Monogrammen versehen und später im Stadtgebiet hinterlassen. In den vier Stunden des Workshops war das Picknick auch immer ein wichtiger Teil des Zusammenseins, des Austauschs und der Reflexion. Es wurden viele Handyfotos gemacht, die später in der gemeinsamen Chatgruppe geteilt wurden. Das war auch nochmal ein reflexiver und bewusstseinsstiftender Moment. Zur Dokumentation und Sichtbarmachung des Projekts benutzten wir ein Padlet, in dem Fotos und Ergebnisse der Teilnehmenden angeordnet sind. Hier können die einzelnen Orte und Stationen nachvollzogen werden. Und es entsteht ein Eindruck zur Atmosphäre in der Jungen Gruppe Kunst, die wirklich sehr harmonisch und kreativ war.
Da die Teilnehmenden aus verschiedenen Kontexten und Ländern kamen, hat sich unser aller Fokus auf das, was wir sahen und machten, durch den gegenseitigen Austausch ständig erweitert. Alle haben mit den eigenen Erfahrungen und der mitgebrachten Perspektive auf den Leipziger Stadtraum reagiert.
ALW: Wie wurde das Projekt durch die Corona-Pandemie beeinflusst?
Johanna Bölke: Zu Beginn war noch nicht klar, ob oder in welcher Form das Projekt stattfinden kann. Dann wurde das Konzept angepasst, – statt musealen, institutionellen (Innen-)Räumen haben wir Kunst im Außenraum entdeckt und kennengelernt. Teilweise verhält man sich ja auch ganz anders im Freien als drinnen, in einem Museum oder in einer Galerie.
Der Außenraum und die Stadt sollen ja allen gehören, und wir haben als Gruppe erforscht und getestet, wie man sich diesem an sich bekannten Raum nähern kann. Dort haben wir Sachen ausprobiert und verändert, die man vielleicht so nicht sofort machen würde – oder sich dann doch nicht alleine traut …
Mit den Treffen draußen in der Stadt haben sich also auch die Fragen geändert, mit denen wir an die Orte und Skulpturen herangegangen sind.
Der Aspekt des Sammelns wurde im Laufe der Treffen wichtig. Dinge, die wir vor Ort fanden. Einige Aktivitäten haben sich dadurch ganz spontan ergeben. Auch haben wir immer wieder persönliche, mitgebrachte Objekte an unterschiedliche Orte im Außenraum installiert. Auf dem Jahrtausendfeld, einer seit Jahren existierenden Brachfläche an der Karl-Heine-Straße im Stadtteil Plagwitz, wurden die Objekte auf selbstgebaute Sockel gelegt, sie in Bezug zum Raum, den anderen Objekten und auch zu uns selber gesetzt. Auf der Karl-Liebknecht-Straße in der Südvorstadt haben wir die Objekte in Beziehung zu den Schaufenstern der vielen Geschäfte assoziiert.
Dass wir bestimmte Straßenzüge auf diese Weise erforschen und kennenlernen konnten oder uns aus einem anderen Blickwinkel mit den Dingen beschäftigt haben, die die Gruppe spannend fand, lag vielleicht auch an dem flexiblen Konzept.
ALW: Wie habt ihr den öffentlichen Raum während der Corona-Pandemie wahrgenommen? Wie hat er sich verändert?
Hanna Thuma: Bedingt durch die Pandemie konnten unsere Treffen nur draußen stattfinden. Deshalb waren wir auch bei schlechtem Wetter, wenn man sonst nicht raus gehen würde, auf den Straßen unterwegs. Wir haben dadurch den öffentlichen Raum auf eine neue Weise erleben können. Wir waren draußen, wenn keiner draußen war. Anfangs haben wir zwar auch gefroren, aber gerade diese Einsamkeit bot uns viele Möglichkeiten. Einerseits konnten wir den offenen Raum viel aufmerksamer, ohne Druck, betrachten und uns andererseits viel freier bewegen und Neues ausprobieren, da wir uns weniger beobachtet fühlten.
Auf der sonst sehr belebten Karl-Liebknecht-Straße haben wir uns die dort sehr präsente Skulptur „Familie“ von Rudolf Oelzner durch performative Aktionen angeeignet. Das schlechte Wetter hat uns dabei eher geholfen, – die wenigen Menschen auf der Straße waren mehr damit beschäftigt, schnell von A nach B zu kommen, als uns zuzuschauen.
Während der Laufzeit unseres Projekts sanken die Fallzahlen der Corona-Pandemie in der dritten Welle, und mit dem beginnenden Sommer wurde der öffentliche Raum wieder belebter. Unseren Aktivitäten auf einer lebendigeren Straße weiter nachzugehen, hat uns zwar ganz anders herausgefordert, aber wir waren auch schon gut geübt. Am Ende waren wir alle der Meinung, unser Selbstbewusstsein gestärkt zu haben.
ALW: Was würdet Ihr sagen, haben die Teilnehmenden von den Workshops mitgenommen?
Michael Barthel: Vor allem die Sensibilisierung für den Stadtraum. Sowohl für das, was in ihm zu sehen ist, wie auch für das, was zu hören ist. Für Dinge, an denen sonst vielleicht immer nur vorbeigelaufen wird und die als gegeben genommen werden. Beispielsweise haben wir mit der Klangkünstlerin Anna Schimkat einen Audiowalk durch den Leipziger Stadtteil Lindenau gemacht und uns diesen auf akustische Weise erschlossen – durch das Zuhören an und von Orten, oder einer Intervention, bei der mit dem Schlagen von Löffeln an Zäunen und Geländern Töne und Rhythmen erzeugt wurden. Es ging immer auch um die Selbstermächtigung im Stadtraum, die auch an anderen Workshoptagen durch z.B. selbst gestaltete Aufkleber thematisiert wurde. Wir haben unsere an Mülltonnen nahe der Galerie für Zeitgenössische Kunst angebracht, die schon lange mit massig Stickern voll geklebt waren. Auch wurde anhand der Mülltonnen der Skulpturenbegriff immer wieder erweitert. Sowohl in der Frage „Was alles kann eine Skulptur sein?“, wie auch, dass durch das Verrücken der Mülltonnen ein Skulpturenensembles entstand, das im nächsten Augenblick durch ein weiteres Verrücken gleich wieder verändert wurde. Der eigene Körper im Stadtraum wurde ebenso thematisiert und es wurden „Menschliche Skulpturen“ auf dem ehemaligen Messegelände geschaffen. Aus der „Liegenden Gruppe Kunst“ wurde die „Junge Gruppe Kunst mit einem Bein in die Höhe“, aus „Frohe Gruppe Kunst“, wurde die „Müde Gruppe Kunst“ usw.
Dadurch, dass von den Teilnehmenden auch selbst Orte vorgeschlagen wurden, um sie beim nächsten Mal zu besuchen, sie zu erkunden und zu ihnen zu arbeiten, gab es eine Auseinandersetzung und ein Sensibilisieren auch für die Stadtteile, in denen die Teilnehmenden wohnten.
Vielleicht wird heute also aufmerksamer in den Stadtraum geschaut und auf dessen Geräusche gehört.
Mehr Fotos der JUNGE GRUPPE KUNST gibt es hier.