Was tun?

Schwerpunkt: Kampfzone Berlin

Was tun?

Wie die Antifa Genclik Neonazis bekämpfte und was man daraus lernen kann
Redaktion von 99% URBAN / Foto: Anna-Lena Wenzel (Tatort im Todesfall Gerhard Kaindl)

 

Auf Flüchtlingsunterkünfte wird geschossen, es werden Sprengsätze geworfen, Brände gelegt. Neo-Nazis greifen Geflüchtete, Migranten, Linke an, ziehen an vielen Orten nahezu unbehelligt durch die Straßen. Pegida und AfD schaffen es, ihre rassistischen, menschenverachtenden Forderungen salonfähig zu machen. Wir haben 2016 – aber die Zustände erinnern an die neunziger Jahre, an die Zeit der Pogrome und tödlichen Brandanschläge. Was sich geändert hat: klar, so viele Menschen wie noch nie engagieren sich in Deutschland ehrenamtlich für Geflüchtete. Was sich nicht geändert hat: Neo-Nazis und Rassisten haben in Deutschland Oberwasser. Alleine in Berlin sind die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte stark gestiegen: von 34 im Jahre 2014, auf 46 im Jahr 2015. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Erst vor wenigen Wochen sind tausende Neo-Nazi-Hools durch Berlins Mitte gezogen.

In der vagen Hoffnung, dass man doch aus der Geschichte lernen kann, blicken wir daher jetzt auf die „Antifasist Gençlik“. Eine migrantische Gruppe, die Ende der Achtziger/ Anfang der Neunziger nicht daran gedacht hat, den Neo-Nazis in Berlin kampflos die Straßen zu überlassen, sondern ihnen die Zähne und Fäuste zeigte. In diesem Interview, das wir - gekürzt und redaktionell bearbeitet - aus der Arranca übernommen haben, blicken wir auf die Zeit und den Kampf der „Antifa Genclik".

 

 "Wir müssen unsere Erfahrungen aufarbeiten"

 

Interview mit Kemal, Gründungsmitglied der Berliner ImmigrantInnengruppe Antifasist Gençlik

 

In welchem politischen Klima entstand 1988/89 die Idee, mit Antifasist Gençlik (Antifaschistische Jugend) eine eigenständige ImmigrantInnenselbstorganisierung aufzubauen?

 

Kemal: In der Zeit verschärften sich die rassistischen Angriffe in Berlin. In Charlottenburg hatten z.B. Hooligans nach einem Spiel ein Baby aus einem Kinderwagen genommen, um damit Fußball zu spielen, was uns besonders erschreckte. Sowieso gab es seit 1983/84 in Spandau, Wedding, aber auch in Kreuzberg immer wieder Parolen wie "Ausländer raus" auf Wänden zu lesen. Dazu kam 1988 die Wahl der Republikaner ins Abgeordnetenhaus. Das war der Grund, warum wir, einige ältere Immigranten, uns organisiert haben. Nachdem wir 6 Monate unabhängig von deutschen Gruppen oder anderen türkischen Linken in Kreuzberg aktiv gewesen waren, haben wir uns im Verlauf des Jahres 1989 an türkische und kurdische Linke gerichtet und gesagt, sie sollten sich mit uns als Immigranten in Deutschland organisieren. Das hieß, sie sollten weiterhin in ihren Organisationen zur Situation in ihrem Land arbeiten, aber daneben als Einzelpersonen Ali oder Ahmet auch in unserer parteiunabhängigen Gruppe mitmachen. Zur gleichen Zeit erfuhren wir, dass es in Neukölln und Wedding unabhängig von uns ähnliche Initiativen gab. Mit denen haben wir uns 1989 zusammengeschlossen und uns den gemeinsamen Namen Antifasist Gençlik gegeben.

 

Schon vor dem Entstehen von Gençlik gab es in Berlin Jugendliche, die zum Teil in Banden organisiert waren und sich gegen den rassistischen Terror zur Wehr setzten. Zum 100. Geburtstag von Hitler am 20. April 1989 gingen ja viele Jugendliche spontan auf die Straße, nachdem der Senat ihnen geraten hatte, sich vor befürchteten Nazi-Angriffen lieber zu Hause zu verstecken.

 

Das war zeitgleich zum Entstehen von AG. Am 20. April waren wir zum ersten Mal mit den Jugendlichen auf der Straße, allerdings - das ist richtig - ohne da bereits den Namen Antifasist Gençlik zu verwenden. Nach diesem Tag ist uns bewusst geworden, dass sehr viele Jugendliche von sich aus Interesse haben, gegen den Rassismus aktiv zu werden.

 

Kannst du nochmal genauer sagen, aus was für Leuten Antifasist Gençlik damals hervorgegangen ist? Du hast ja gesagt, dass auch organisierte türkische und kurdische Linke angesprochen wurden. Auf der anderen Seite war das Entstehen von Gençlik durchaus auch eine Kritik an diesen Leuten, die mit den Jugendlichen der dritten Generation überhaupt nichts zu tun hatten und ausschließlich zur Situation in ihrer Heimat arbeiteten.

 

Ja, das stimmt. Wir waren 5 Leute, die selbst aus der türkischen Linken kamen und mit der Politik dieser Gruppen nicht mehr übereinstimmten. Wir sahen, dass die türkischen Leute in Deutschland andere Probleme hatten, und zwar genau deswegen, weil sie hier leben. Die türkischen Jugendlichen, hier groß geworden waren, hatten mit der Türkei fast keine Verbindungen mehr. Sie interessierten sich nur am Rande für das, was in der Türkei passierte, sie lebten und fühlten die Realität in Deutschland. Wir fanden es unmöglich, wie die türkische Linke in ihren Vereinen darauf wartete, dass die Jugendlichen zu ihnen kamen. Unserer Meinung nach musste man mit den Jugendlichen auf der Straße sein, zu ihren Problemen arbeiten, wenn man sie politisieren wollte. Eine andere Kritik an den türkischen Gruppen war ihr Verhältnis zur deutschen Linken. Die türkischen und kurdischen Organisationen gingen auf die deutschen Leute nur zu, wenn sie Unterstützung brauchten. Dann redeten sie von internationaler Solidarität. Aber wenn sie von deutschen Linken angesprochen wurden, wie z.B. bei der Anti-NATO-Bewegung oder der Anti-AKW-Bewegung in den 80er Jahren, dann waren sie nicht auf der Straße.

 

Der Mauerfall und das Nazi-Problem

 

Was hat AG 1990/91 gemacht? Auf was habt ihr euch nach dem Mauerfall, nach dem sich der Rassismus unglaublich verschärfte, konzentriert und wie groß war euer Einfluss auf die Jugendlichen?

 

Wir hatten sehr schnell den Respekt von Jugendlichen im Kiez. Sie sind von sich aus zu uns gekommen und haben uns gefragt, was man machen kann. Unsere Vorschläge waren z.B. zusammen S-Bahn zu fahren, denn es kam in den Ostberliner S-Bahnen immer wieder zu rassistischen Angriffen, manchmal wurden sogar Leute aus den fahrenden Wagen geworfen, oder gemeinsam zum Alex zu gehen, um die dort versammelten Nazis zu vertreiben. Dieses selbstständige Handeln der Jugendlichen hat uns auf die Idee gebracht, dass wir die verschiedenen Jugendbanden, die es in Berlin gab, miteinander versöhnen könnten. Daraufhin sind wir auf die Black Panther aus dem Wedding, die 36 Boys aus Kreuzberg, die Barbaren aus Schöneberg usw. zugegangen.

 

...eure Orientierung an Banden hat sich also erst allmählich herausgebildet. Ihr habt bei eurer Arbeit im Stadtteil festgestellt, dass die Gangs eine große Rolle unter den Jugendlichen spielen, und dass man deswegen mit ihnen reden muss...

 

Die Banden waren der kämpferischste Teil der Kids im Stadtteil. Uns war klar, dass wenn wir nicht mit ihnen zusammenarbeiten und sie politisieren würden, dass sie dann im Verlauf der Jahre zur Mafia gehen würden. Wenn du mit den 16-, 17jährigen geredet hast, dann haben dir ganz viele gesagt: Ich hab keine Chance auf einen Job, aber ich kann später vielleicht Drogen dealen, als Zuhälter arbeiten oder hehlen. Viele von den Jugendlichen hatten keine andere wirtschaftliche Perspektive als die Mafia. Dazu kam das Identitätsproblem, sie waren und sind weder in der Türkei zu Hause noch im Deutschland seit 1989. Es war völlig klar, dass wir deswegen mit ihnen politisch arbeiten mussten. Die gemeinsamen politischen Aktionen richteten sich fast ausschließlich gegen Nazis. Das hatte mit der Wirklichkeit der Jugendlichen zu tun. Die Präsenz der Nazis war erdrückend, der Rassismus war noch alltäglicher geworden seitdem. Soziale Forderungen, wie z.B. nach einem Schul- oder Ausbildungsplatz hätten wir natürlich aufgegriffen, wenn die Jugendlichen sich dafür interessiert hätten. Aber das war noch nicht der Fall. Wir haben uns deswegen darauf beschränkt, als ersten Schritt mit ihnen gemeinsam Aktionen gegen Nazis zu machen. Inzwischen sehe ich es als Fehler, dass wir uns nur mit irgendwelchen faschistischen Hohlköpfen auseinandergesetzt haben. Wir hätten auch die sozialen Forderungen diskutieren und auf die Straße bringen müssen. Nur so hätten die Jugendlichen ihre eigene Situation wirklich begreifen können. 

 

1992 gab es die Veranstaltung "Birlikte Güclüyuz" - Gemeinsam sind wir stark -, die ihr mit den Gangs organisiert habt. Den ganzen Abend haben die Leute, bestimmt 600-700 Jugendliche spontan gerappt und gebreakdanct. Dann ist eine Massenschlägerei ausgebrochen und alles, was ihr an Zusammenarbeit der Banden erreicht hattet, ist kaputt gegangen. Warum kam es zu dieser Auseinandersetzung zwischen den Gangs, und warum ist Gençlik daran zerbrochen? Die Gruppe löste sich danach ja auf.

 

Vor der Veranstaltung gab es in AG Diskussionen darüber, ob wir die Veranstaltung gleich machen oder aber noch warten sollten, um vorher mit den Jugendlichen intensiver zu diskutieren und mehr gemeinsame Erfahrungen auf der Straße zu sammeln. Es gab ja gewalttätige Konflikte zwischen den Banden, und einige von uns meinten, dass wir deswegen mit einer Veranstaltung für alle Gangs noch warten sollten. Der andere Teil von AG meinte dagegen, dass wir so schnell handeln müssten wie möglich, dass wir die Chance nicht verstreichen lassen dürften. Tatsächlich begannen damals die Streetworkerprogramme des Senats, mit denen die Jugendlichen entpolitisiert und gespalten werden sollten. Am 1. Mai wurden Flugblätter verteilt: "Geh nicht auf die Demo, komm zu unserer Fete" usw. Es gab daher die Befürchtung, dass die Jugendlichen so massiv beeinflusst werden könnten, dass unserer politischen Arbeit damit der Boden entzogen werden würde.

Wir haben uns für ein schnelles Handeln entschieden. Am Vorabend der Veranstaltung haben wir mit den Bandenchefs diskutiert und alle haben gesagt, dass der Kampf untereinander aufhören muss und dass von nun an der Faschismus der gemeinsame Gegner sei. Bei den Vorbereitungen gab es überhaupt keine Probleme.
 Am Abend war zunächst auch alles in Ordnung, dann jedoch gab es diesen Bullenfunkspruch, der von Leuten mitgehört wurde: "Von uns können wir niemanden reinbringen, aber wir können einen von ihnen reinschicken". Als die Nachricht von dem Funkspruch zum Veranstaltungsort kam, war der Streit schon losgegangen. Einige von uns haben sich dann falsch verhalten, sie haben hin- und herlaviert... 

 

Der Fall „Kaindl“  und der Anfang vom Ende

 

Du meinst, sie haben sich auf eine Seite geschlagen?

 

Nein, sie haben sich nicht eindeutig genug verhalten. Wir hätten sagen müssen: "Wer hier Streit anfängt, kriegt von uns eine aufs Maul". Die Verantwortlichen für den Streit hätte man rausschmeißen können. Das haben wir nicht gemacht, wir haben die Vermittler gespielt und Bedingungen der Banden erfüllt. Dadurch ging der Respekt, den wir als AG bei ihnen hatten, verloren. Die Banden sind aufeinander losgegangen und der Krieg untereinander war grösser als vor der Veranstaltung. Danach griffen Bandenjugendliche Leute von uns an, in unserem Treffpunkt wurden die Scheiben eingeschmissen usw. Es stellt sich also heraus, dass es tatsächlich für die Veranstaltung zu früh gewesen war. Zumindest hätten wir uns überlegen müssen, wie wir auf eine Provokation, die von den Bullen eingefädelt wurde, reagieren. Die Debatte darüber und der Stress, den wir durch die Situation hatten, führte dazu, dass wir uns als AG zerstritten haben. Die Gruppe zerfiel in Splitter, die Gemeinsamkeiten unseres Handelns, die wir ins unseren 15 Grundsatzpunkten vereinbart hatten, gingen verloren und einzelne von uns begannen, sich mit deutschen autonomen Gruppen zu identifizieren. Es wurde also auch noch der Streit von außerhalb in uns hineingetragen. Unsere ursprüngliche Position, dass nämlich Leute aus anderen Gruppen und Organisationen bei uns nur als Einzelpersonen mitarbeiten dürften, wurde aufgegeben. Ich halte das für einen Fehler, wir hätten diejenigen die sich in Antifasist Gençlik als Mitglieder einer Organisation, Partei oder Gruppe verhielten, rauswerfen müssen.

 

Sag doch etwas zum Kaindl-Fall. (Anmerkung d. Red.: Der Neonazi-Funktionär Gerhard Kaindl wurde 1992 in Berlin bei einer Versammlung in einer Gaststätte erstochen. Mehrere Personen wurden in diesem Zusammenhang 1994 zu Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt.) Gençlik ist ja immer wieder kriminalisiert worden, im Berliner Verfassungsschutzbericht 1991/92 wurden eure Kontakte zu den Gangs als eine der gefährlichsten Entwicklungen eingeschätzt, und im Kaindl-Fall wurde von Anfang an gegen euch ermittelt. Meinst du, der Fall ist auch ein Versuch, ImmigrantInnenorganisierung durch Einschüchterung ein für alle Mal unmöglich zu machen?

 

Zwischen 1965 und 89 gab es in Deutschland praktisch keine Selbstorganisierung von ImmigrantInnen, die eigene Interessen selbstbewusst vertreten hätten. Ab 1989 dann waren zum ersten Mal junge ImmigrantInnen auf der Straße. Daraus hätte eine neue Opposition entstehen können. Der Kaindl-Fall ist natürlich auch als eine Lektion gegen Widerstand leistende ImmigrantInnen gedacht...

 

...Betroffen sind aber auch 3 Deutsche...

 

Ja, die Kriminalisierung richtet sich nicht spezifisch gegen Antifasist Gençlik. Aber es geht sehr wohl hauptsächlich gegen ImmigrantInnen. Daneben geht es gegen den Antifa-Widerstand überhaupt. Die Leute sollen Angst bekommen, auf Aktionen zu gehen. Man will verhindern, dass Antifas zu Nazi-Treffen mobilisieren. Außerdem soll eine Distanzierung zwischen deutschen Linken und ImmigrantInnen erreicht werden. Vorurteile sollen gestärkt werden

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