Revier
Revier
Fotos und Text: Daniela Friebel
Im Rahmen eines Foto-Arbeitsstipendiums des Haus am Kleistpark 2018 hat sich die Künstlerin Daniela Friebel mit Nachtigall-Revieren im Bezirk Tempelhof-Schöneberg beschäftigt. Nachtigallen sind standorttreu. Sie überwintern in Afrika südlich der Sahara und kehren zur Brutsaison an den gleichen Ort, in das gleiche Gebüsch des Vorjahres zurück.
Einige dieser Reviere hat Daniela Friebel im Mai 2022 erneut besucht.
Im Unterholz sitzt eine Nachtigall und singt – genau an derselben Stelle wie in den Jahren zuvor. Der Grünstreifen ist hier nur ein schmales Band. Auf der Karte muss man weit hereinzoomen, um ihn überhaupt zu erkennen. Er befindet sich zwischen zwölf Spuren Stadtautobahn und Sachsendamm auf der einen Seite sowie neun Bahngleisen nahe Bahnhof Südkreuz auf der anderen Seite. Selbst weit nach Mitternacht kommt der Verkehr nicht zum Erliegen.
Die Nachtigall singt unbeirrt. Aus meiner Perspektive erscheint es wie das härteste Revier der Stadt, aber vielleicht ist der ohrenbetäubende Verkehrslärm eine Bühne, um wahre Durchsetzungskraft zu beweisen. Der Gesang dieser Nachtigall trägt durch Lautstärke und Frequenz selbst über die Autobahn hinweg und erreicht sicher mit Leichtigkeit die Flughöhe der später eintreffenden Weibchen.
Die Reviere im sogenannten Fliegerviertel, der Gartenstadt Neu-Tempelhof, sind das genaue Gegenteil. Es gibt ausgedehnte Grünanlagen, die sich beinahe kreisförmig durch das von Einfamilienhäusern geprägte Wohngebiet ziehen, sogar einen Teich. Nachts sind die Straßen wie ausgestorben – laut ist es trotzdem. In einer noch kühlen Frühlingsnacht in diesem Mai stehe ich an einer Straßenecke mitten in einem Gesangs-Battle. Zwei Nachtigall-Männchen singen in voller Lautstärke, keine hundert Meter voneinander entfernt. Kaum ertönt eine rund 4 Sekunden dauernde Strophe von links, so fällt der Kontrahent von rechts dem Widersacher ins Wort und singt eine Strophe mit gleicher Vehemenz – bis das erste Männchen zu einer neuen Strophe anhebt und der Rivale sofort wieder einsetzt.
Selbst als Laie, ohne Kenntnis unzähliger Studien, die genau das belegen, spürt man, dass hier ein Machtkampf ausgetragen wird.
Um die Reviere in Tempelhof-Schöneberg zu finden, habe ich mich nach Mitternacht langsam auf dem Fahrrad durch den Bezirk treiben lassen. Dann ist die Stadt am ruhigsten und der Gesang der Nachtigallen trägt mehrere Straßen weit. Ich folge meinen Ohren, bis ich direkt vor einem Gebüsch stehe, welches ich im Dunkeln mit meinen Augen nicht durchdringen kann. Die Nachtigall sitzt gefühlt nur eine Armeslänge von mir entfernt und mein Trommelfell vibriert durch ihre Lautstärke. Jede ihrer Strophen ist anders, hat ein einziger Vogel doch ein Repertoire von durchschnittlich knapp zweihundert verschiedenen Strophen.
Ich höre ihnen in der nächtlichen Stadt zu, mit jeder Nachtigall, die ich auf meinen Streifzügen finde, verbringe ich einige Zeit. Nach und nach schärft sich mein Ohr auch für die individuellen Unterschiede zwischen den Tieren. Ihre Lautstärke und Intensität variieren, aber auch die Wahl und Kombination der Strophen. Manche singen zögernd, fast verhalten, manche eher melodisch, andere wiederum verwenden vorrangig schlagend-ratternde Strophen. Eine Nachtigall am Augsburger Platz in Marienfelde klang wie experimenteller Free-Jazz.
Tagsüber kehre ich zu den Revieren zurück, um sie zu fotografieren. Tempelhof-Schöneberg ist ein sehr heterogener Bezirk, aber die Reviere selbst ähneln sich. Gebüsch mit viel Unterholz und einem oder mehreren Bäumen als Singwarte. Das Berlin nicht ausreichend Geld hat, um jede Grünfläche zu trimmen, kommt den Nachtigallen zugute.
Im Süden grenzt der Bezirk an Brandenburg, der Mauerweg ist ein idyllischer Wanderweg, entlang dessen Nachtigallen wie auf einer losen Perlenschnur aufgereiht sitzen. Ich fotografiere ein Revier an der Wittelsbacher Straße, die hier als Sackgasse direkt vor der ehemaligen Mauer endet. Ein großes Holzkreuz erinnert an Horst Kullack, der Silvester 1971 auf seiner Flucht von Grenzsoldaten angeschossen wurde. Die Tat blieb die erste Zeit unentdeckt, da die Schüsse im Feuerwerk verborgen blieben.
Meine erste Begegnung mit Nachtigallen fand im Treptower Park statt. Einige Male durfte ich die Forschungsgruppe um Prof. Silke Kipper[1] begleiten, die viele Jahre lang die große Nachtigallen-Population im Park untersuchte.
In zahlreichen der inselförmigen Baum-Gebüsch-Gruppen brüten Nachtigallenpaare und ich lernte, dass Männchen mit ihrem Taggesang eine Grenze um ihr Revier ziehen – eine akustische Grenze, die am Ende der Brutsaison durch das Einstellen des Gesangs wieder aufgelöst wird.
In einem größeren Gebüsch direkt entlang einer der Hauptwege des Parks, neben einer Laterne sowie übervollem Mülleimer mit Resten der letzten Partynacht, sang ein beringtes Männchen. Seine farbigen Ringe konnten von den Forschenden leicht mit dem Fernglas abgelesen werden – schon seit acht Jahren kehrte diese inzwischen hochbetagte Nachtigall nach der Überwinterung in Afrika genau an diese Stelle zurück.
Die Nachtigallen ließen mich eine Ebene der Stadt wahrnehmen, die mir bis dahin verborgen war. Start- und Endpunkt meiner Streifzüge war der Platz der Luftbrücke, PladeLu im Polizeijargon. Gegenüber der Wache, am Rand des Platzes, sang immer ein Männchen, es war beinahe egal, wann ich vorbeikam. Einmal fragte eine Passantin, ob es sich um einen entflogenen Wellensittich handele. Eine verlassene Brache, wo ein Imker seine Bienenkästen aufgestellt und eine Nachtigall Revier bezogen hatte, war im Jahr darauf eine riesige Baugrube. Oft mache ich im Frühling kleine Umwege in der Stadt, um zu hören, ob die Reviere von den Nachtigallen oder ihren Nachkommen wieder besetzt sind – beinahe als würde ich schauen, ob bei Freunden Licht brennt. Jede Begegnung mit einer Nachtigall berührt mich. Direkt am Eingang S-Bahnhof Priesterweg höre ich eines nachts einem Männchen zu – nur wenige Tage später fahre ich mit der S2 Richtung Süden. Als sich am Priesterweg die Türen öffnen, höre ich – eingezwängt zwischen Fahrgästen und durch die Zugdurchsagen – die Nachtigall laut und klar singen.
[1] Mitte April 2022 ist im Insel-Verlag das Buch "Die Nachtigall" von Prof. Silke Kipper erschienen. Auf unterhaltsame und zugleich fundierte Weise lädt sie zu einem Einblick in zwanzig Jahre Forschungsarbeit zum Thema Nachtigall und ihrem Gesang. Sie geht u.a. der Frage nach, ob Nachtigallen von ihren Qualitäten als Väter singen und wie man herausbekommt, wen das Weibchen bei einem Gesangsbattle als Sieger kürt.
Einige dieser Reviere hat Daniela Friebel im Mai 2022 erneut besucht.
Im Unterholz sitzt eine Nachtigall und singt – genau an derselben Stelle wie in den Jahren zuvor. Der Grünstreifen ist hier nur ein schmales Band. Auf der Karte muss man weit hereinzoomen, um ihn überhaupt zu erkennen. Er befindet sich zwischen zwölf Spuren Stadtautobahn und Sachsendamm auf der einen Seite sowie neun Bahngleisen nahe Bahnhof Südkreuz auf der anderen Seite. Selbst weit nach Mitternacht kommt der Verkehr nicht zum Erliegen.
Die Nachtigall singt unbeirrt. Aus meiner Perspektive erscheint es wie das härteste Revier der Stadt, aber vielleicht ist der ohrenbetäubende Verkehrslärm eine Bühne, um wahre Durchsetzungskraft zu beweisen. Der Gesang dieser Nachtigall trägt durch Lautstärke und Frequenz selbst über die Autobahn hinweg und erreicht sicher mit Leichtigkeit die Flughöhe der später eintreffenden Weibchen.
Die Reviere im sogenannten Fliegerviertel, der Gartenstadt Neu-Tempelhof, sind das genaue Gegenteil. Es gibt ausgedehnte Grünanlagen, die sich beinahe kreisförmig durch das von Einfamilienhäusern geprägte Wohngebiet ziehen, sogar einen Teich. Nachts sind die Straßen wie ausgestorben – laut ist es trotzdem. In einer noch kühlen Frühlingsnacht in diesem Mai stehe ich an einer Straßenecke mitten in einem Gesangs-Battle. Zwei Nachtigall-Männchen singen in voller Lautstärke, keine hundert Meter voneinander entfernt. Kaum ertönt eine rund 4 Sekunden dauernde Strophe von links, so fällt der Kontrahent von rechts dem Widersacher ins Wort und singt eine Strophe mit gleicher Vehemenz – bis das erste Männchen zu einer neuen Strophe anhebt und der Rivale sofort wieder einsetzt.
Selbst als Laie, ohne Kenntnis unzähliger Studien, die genau das belegen, spürt man, dass hier ein Machtkampf ausgetragen wird.
Um die Reviere in Tempelhof-Schöneberg zu finden, habe ich mich nach Mitternacht langsam auf dem Fahrrad durch den Bezirk treiben lassen. Dann ist die Stadt am ruhigsten und der Gesang der Nachtigallen trägt mehrere Straßen weit. Ich folge meinen Ohren, bis ich direkt vor einem Gebüsch stehe, welches ich im Dunkeln mit meinen Augen nicht durchdringen kann. Die Nachtigall sitzt gefühlt nur eine Armeslänge von mir entfernt und mein Trommelfell vibriert durch ihre Lautstärke. Jede ihrer Strophen ist anders, hat ein einziger Vogel doch ein Repertoire von durchschnittlich knapp zweihundert verschiedenen Strophen.
Ich höre ihnen in der nächtlichen Stadt zu, mit jeder Nachtigall, die ich auf meinen Streifzügen finde, verbringe ich einige Zeit. Nach und nach schärft sich mein Ohr auch für die individuellen Unterschiede zwischen den Tieren. Ihre Lautstärke und Intensität variieren, aber auch die Wahl und Kombination der Strophen. Manche singen zögernd, fast verhalten, manche eher melodisch, andere wiederum verwenden vorrangig schlagend-ratternde Strophen. Eine Nachtigall am Augsburger Platz in Marienfelde klang wie experimenteller Free-Jazz.
Tagsüber kehre ich zu den Revieren zurück, um sie zu fotografieren. Tempelhof-Schöneberg ist ein sehr heterogener Bezirk, aber die Reviere selbst ähneln sich. Gebüsch mit viel Unterholz und einem oder mehreren Bäumen als Singwarte. Das Berlin nicht ausreichend Geld hat, um jede Grünfläche zu trimmen, kommt den Nachtigallen zugute.
Im Süden grenzt der Bezirk an Brandenburg, der Mauerweg ist ein idyllischer Wanderweg, entlang dessen Nachtigallen wie auf einer losen Perlenschnur aufgereiht sitzen. Ich fotografiere ein Revier an der Wittelsbacher Straße, die hier als Sackgasse direkt vor der ehemaligen Mauer endet. Ein großes Holzkreuz erinnert an Horst Kullack, der Silvester 1971 auf seiner Flucht von Grenzsoldaten angeschossen wurde. Die Tat blieb die erste Zeit unentdeckt, da die Schüsse im Feuerwerk verborgen blieben.
Meine erste Begegnung mit Nachtigallen fand im Treptower Park statt. Einige Male durfte ich die Forschungsgruppe um Prof. Silke Kipper[1] begleiten, die viele Jahre lang die große Nachtigallen-Population im Park untersuchte.
In zahlreichen der inselförmigen Baum-Gebüsch-Gruppen brüten Nachtigallenpaare und ich lernte, dass Männchen mit ihrem Taggesang eine Grenze um ihr Revier ziehen – eine akustische Grenze, die am Ende der Brutsaison durch das Einstellen des Gesangs wieder aufgelöst wird.
In einem größeren Gebüsch direkt entlang einer der Hauptwege des Parks, neben einer Laterne sowie übervollem Mülleimer mit Resten der letzten Partynacht, sang ein beringtes Männchen. Seine farbigen Ringe konnten von den Forschenden leicht mit dem Fernglas abgelesen werden – schon seit acht Jahren kehrte diese inzwischen hochbetagte Nachtigall nach der Überwinterung in Afrika genau an diese Stelle zurück.
Die Nachtigallen ließen mich eine Ebene der Stadt wahrnehmen, die mir bis dahin verborgen war. Start- und Endpunkt meiner Streifzüge war der Platz der Luftbrücke, PladeLu im Polizeijargon. Gegenüber der Wache, am Rand des Platzes, sang immer ein Männchen, es war beinahe egal, wann ich vorbeikam. Einmal fragte eine Passantin, ob es sich um einen entflogenen Wellensittich handele. Eine verlassene Brache, wo ein Imker seine Bienenkästen aufgestellt und eine Nachtigall Revier bezogen hatte, war im Jahr darauf eine riesige Baugrube. Oft mache ich im Frühling kleine Umwege in der Stadt, um zu hören, ob die Reviere von den Nachtigallen oder ihren Nachkommen wieder besetzt sind – beinahe als würde ich schauen, ob bei Freunden Licht brennt. Jede Begegnung mit einer Nachtigall berührt mich. Direkt am Eingang S-Bahnhof Priesterweg höre ich eines nachts einem Männchen zu – nur wenige Tage später fahre ich mit der S2 Richtung Süden. Als sich am Priesterweg die Türen öffnen, höre ich – eingezwängt zwischen Fahrgästen und durch die Zugdurchsagen – die Nachtigall laut und klar singen.
[1] Mitte April 2022 ist im Insel-Verlag das Buch "Die Nachtigall" von Prof. Silke Kipper erschienen. Auf unterhaltsame und zugleich fundierte Weise lädt sie zu einem Einblick in zwanzig Jahre Forschungsarbeit zum Thema Nachtigall und ihrem Gesang. Sie geht u.a. der Frage nach, ob Nachtigallen von ihren Qualitäten als Väter singen und wie man herausbekommt, wen das Weibchen bei einem Gesangsbattle als Sieger kürt.