Die Mission. Kunst gegen Kälte 1997–2022

Die Mission. Kunst gegen Kälte 1997–2022

Gespräch: Anna Ulmer, Fotos: Markus Scholz
Die Geschichte der „Mission“ handelt von einer kontrovers rezipierten Inszenierung Christoph Schlingensiefs im Schauspielhaus, von der Errichtung eines neuen Prototyps einer Bahnhofsmission in einer ehemaligen Polizeiwache, vom plötzlichen Zusammenkommen von bürgerlichem Kunstpublikum und Bahnhofsklientel, von performativen Innenstadtaktionen, täglicher Essensausgabe, kontrastreichem Kulturprogramm und besonderen Festen, von den Pat*innenschaften verschiedener Hamburger Kulturinstitutionen, der praktischen Arbeit vieler Helfer*innen, einer Vereinsgründung und der Selbstverwaltung, vom Alltag, vielen Umzügen und der endgültigen Schließung im Jahr 2022. Die Geschichte der Mission ist aber auch eine Erzählung darüber, wie sich eine Stadt zu der in ihrem Zentrum sichtbaren Wohnungs- und Obdachlosigkeit verhält. 

Rudolf Goerke war von 1997 bis 2006 in der Mission aktiv. Das Gespräch findet am 8. August 2023 in einem Dönerimbiss auf der Reeperbahn statt. Der hintere Bereich ist groß und nur spärlich besucht. In den folgenden zwei Stunden wird sich Rudi in begeisterten Erzählungen verlieren und sein Essen kaum anrühren. 
 
AU: Wir sprechen heute über deine Rolle in und deine Erinnerungen an die Mission. Ich glaube, die erste Frage stellt sich fast von selbst: Wie bist du zur Mission gekommen?
 
RG: Ich war selber 16 Jahre lang obdachlos und habe mich auch teilweise am Hauptbahnhof aufgehalten. Und dann habe ich diese Künstlergruppe draußen gesehen und dachte: Okay, geh mal einfach mit! Das war am zweiten Tag von Christoph Schlingensief damals. Dann war ich in der alten Wache ganz kurz und danach war ich Gast in der Ernst-Merck-Straße. Da war die erste Mission. Beziehungsweise nach der Wache war es eigentlich die zweite Mission. Das war ein kleiner Raum, wo man sich aufhalten konnte, Kaffee trinken, bisschen essen und einfach abschalten. Die Mission war inklusive Bühne nicht größer als dieser Raum, wo wir gerade sitzen. Unten war das Büro und die Küche. Da bin ich dann gelandet und da bin ich auch geblieben. Da haben wir eine Skat-Gruppe gehabt am Tisch. Komischerweise waren da vier Leute, die sich an dem Tisch getroffen haben, und wir haben uns von Anfang an verstanden. Alle vier waren obdachlos, aber sahen nicht aus wie Obdachlose. Wir haben uns gepflegt. Ja, wir haben alle draußen geschlafen, aber wir haben uns sauber gehalten. Wir sind in die Uni gegangen zum Waschen und auf Toilette gehen am Tage oder auch zum Duschen in der Unihalle Turmweg, die gab’s damals noch. Aber die Mission war natürlich das Optimale, wo man sich tagsüber aufhalten konnte bzw. auch abends. Das waren meine Anfänge in der Mission. Und mir gefiel auch, dass dann auf dieser kleinen Bühne einige Theaterleute etwas gemacht oder am Klavier gespielt haben. Es war nett.
 
AU: Und in der Polizeiwache war das noch anders?
 
RG: Da war die allererste Mission mit Christoph Schlingensief, wo die Betten dort aufgestellt worden sind. Er wollte den Prototyp einer neuen Mission, einer Bahnhofsmission, da aufbauen. Das hat mir alles gefallen. Und so bin ich erst Gast geworden und dann nach ein paar Streitereien bin ich auch zum ersten Mal auf der Bühne selber aufgetreten – in der Ernst-Merck-Straße. Da habe ich die Leute erst verschreckt, es gab ja ein Alkoholverbot und ich habe „Brot und Spiele" gemacht. Und als Preise habe ich Bierflaschen geholt, aber Malzbier. Die Leute waren geschockt: Hier in der Mission, das geht gar nicht! Bis sie es angeguckt haben und sahen, dass es Malzbier war. Das waren wirklich meine Anfänge in der Mission. Dann habe ich die Leute kennengelernt, die da gearbeitet haben. Zuerst waren es ja die Schauspieler oder auch Assistenten vom Deutschen Schauspielhaus. Und nach und nach bin ich dann da reingerutscht. Im Keller war das Büro mit Lothar damals und Küche und Toiletten. Das war die allererste Mission, ganz klein.
 
AU: Von „Brot und Spiele“ hat Matthias [Brott] auch erzählt, das zog sich durch die gesamte Zeit der Mission, oder?
 
RG: Ja, das habe ich auch damals immer weiter gemacht, das war eine der beliebtesten Sachen in der Mission überhaupt. Es gab Geldpreise, es gab Brot zu gewinnen als Niete, es gab andere Preise und das war immer voll. Dann kamen die ersten Schocks, als ich zum Beispiel als Preis 50 DM damals angeboten habe. Das war sehr viel Geld für die Leute. Dazu musst du wissen, ich bin damals sieben Tage die Woche klauen gegangen, hauptsächlich Metall und Altmetall. Das habe ich verkauft und davon habe ich dann auch so was finanziert.
 
AU: Also aus eigener Tasche sozusagen?
 
RG: Das habe ich aus eigener Tasche gezahlt. Nur die Brote und die Margarine nicht.
 
AU: Und wie ging es weiter?
 
RG: In dieser kleinen Mission waren wir ein Jahr etwa, bis wir umgezogen sind. Der Umzug ging durch die Stadt mit Zelt, das war herrlich.
 
AU: Wie lange warst du Teil des Teams und was waren deine Aufgaben, du warst programmverantwortlich?
 
RG: Ich war bis 2005 / 2006 dabei und ich war größtenteils zuständig für die Finanzen, für das Programm, für die Anlage, das Mischpult. Ich war zuständig für Kommunikation zwischen Gästen und Team, ich war quasi in der Mitte. Ich war im Vorstand. Ich habe mit den Künstlern verhandelt, die bei uns aufgetreten sind. Ich habe die Klimaanlage gemacht, ich war eigentlich Mädchen für alles. Ich war damals, wenn ich mich recht erinnere, für die Leute „der Alte“. Ich habe auf Einhaltung von gewissen Regeln geachtet. Und ich habe die Dienstpläne für die Mitarbeiter gemacht, die da ehrenamtlich gearbeitet haben. Wobei, ehrenamtlich stimmt auch nicht. Nachdem nur noch Obdachlose im Vorstand waren, haben wir beschlossen, dass die Mitarbeiter als kleine Vergünstigung die CC-Karte kriegen [eine günstige Monatskarte, mit denen außerhalb der Hauptverkehrszeiten der HVV genutzt werden konnte], damit sie nicht immer schwarzfahren müssen. Das war die einzige Bezahlung, die sie bekommen haben. Ja, und was ich damals noch eingeführt habe – da gab es dieses Winternotprogramm noch nicht – bei uns durften die Obdachlosen auch nachts schlafen, die Mitarbeiter durften da auch schlafen.
 
AU: Den Umzug in die Neustädter Straße hast du dann aber nicht mehr mitgemacht?
 
RG: Nein. Man musste jedes Mal mit dem Vermieter über die Mission verhandeln und das habe ich jedes Jahr geschafft: Verlängerung des Mietvertrages, immer um ein Jahr. Kaum war ich weg, haben die sich über den Tisch ziehen lassen und wir sind dann quasi ein Anhängsel des Pik As geworden. Da war ich sauer: „Ihr habt die Mission aufgegeben.“ Die haben da zwei Räume gekriegt und den großen Raum bei der Sprinkenhof AG aufgegeben. Mit ein bisschen mehr Willen von Seiten der Helfer und der Politik wäre es eigentlich möglich gewesen, die haben ja auch Einfluss auf die Vermieter. 
 
AU: War der Vermieter in der Kaiser-Wilhelm-Straße auch die Sprinkenhof AG wie im Bieberhaus?
 
RG: In der Kaiser-Wilhelm-Straße war es die Sprinkenhof AG [später SIM GmbH]. Da musste ich jedes Jahr verhandeln, aber meine Nachfolger haben sich richtig über den Tisch ziehen lassen. Zu meiner Zeit war das noch die Sprinkenhof AG, aber irgendjemand wollte in die Räumlichkeiten rein. Da haben wir uns entsprechend gewehrt, denn Verbindung zur Politik bestand ja: Die Kultursenatorin damals war bei uns im Keller zu Besuch, die Mission war ja etwas größer geworden, auch finanziell. Und der Staatssekretär der Kulturbehörde kam jedes Weihnachten zu Besuch, hat einen Scheck hinterlassen – privat.
 
AU: Das war euer Mann in der Kulturbehörde, von dem habe ich gehört –
 
RG: Herr Behlmer, den Vornamen weiß ich gerade nicht. Aber wenn du dich erinnerst an den Spruch „Der Muff von 1000 Jahren unter den Talaren“, der stammt von ihm. Den musst du finden. Der kam jede Weihnachten und auch mal zwischendurch. Und die politischen Verbindungen gab es zu allen Parteien. Wählen war für Obdachlose schwer, auch damals. Deswegen haben wir Wahlveranstaltungen gemacht, mit mir als Moderator, mit den verschiedenen Parteien. Und da gab es dann Verbindungen zu allen Parteien in Hamburg, auch zur Schill-Partei, zur SPD, CDU, FDP. Es waren wirklich alle Parteien bei den Diskussionen vertreten. Gerade die SPD war damals aber sehr sauer auf mich: Zur Bürgerschaftswahl trat auch die Schill-Partei an und ich habe alle Parteien eingeladen. Die SPD hat zu mir im Kurt-Schumacher-Haus gesagt: Wir kommen nur, wenn du die auslädst. Und das kann ich auf den Tod nicht aushalten, wenn man mich erpressen will. Nein, die Mission war unabhängig. Ich habe nachher Anträge von allen Parteien bekommen, ob ich nicht eintreten möchte. Aber mein Credo war, wenn ich in eine Partei eintrete, dann habe ich die anderen quasi als Gegner. Und die Mission war offen für alles. Für alles und jeden. Deshalb: Verbindung Politik war da.
 
AU: Aber es bestand schon auch eine Abhängigkeit von der politischen Gemengelage.
 
RG: Jain, man konnte mit den Leuten reden, denn man hat ja auch Verbindungen zur Presse gehabt. Nicht nur positiv, auch negativ. Wir haben ja auch sehr viel Geld selbst erwirtschaftet. Ich kann mich erinnern, dass wir, als ich die Mission übernommen habe, einen Etat von 10.000 Mark hatten. Als ich aufgehört hatte, waren wir bei über 125.000 Euro im Jahr, die wir selbst erwirtschaftet haben – über die Veranstaltungen und die Club Nächte. Jedes Wochenende Freitag und Samstag war da Musik mit Bands aus ganz Deutschland, die unbedingt in der Mission auftreten wollten. Für einen Kasten Bier. Die sind aus Stuttgart, aus Düsseldorf, aus München gekommen, nur um einmal in der Mission auftreten zu dürfen. Und als Bezahlung gab es einen Kasten Bier. Heute unvorstellbar. Aber die sind gerne gekommen.
Später kamen auch Anfragen aus England und Irland, ob sie auftreten können. Aber als wir gesagt haben, es gibt nur einen Kasten Bier, da waren sie raus. Wie gesagt, Programm in der Mission war Musik, Lesungen, Theater, Brot und Spiele oder auch die langen Filmabende. Es war ja verboten, in der Mission zu übernachten. Deswegen haben wir es so gemacht: Ich habe drei Filme nonstop hintereinander gezeigt, dann war das Programm der Mission nicht um 23 Uhr zu Ende, sondern morgens um 6 Uhr, mit Zigarettenpause und so. Und die Leute haben dabei oder danach geschlafen. Ich konnte sie ja schlecht auf die Straße schicken, das ging nicht.
 
AU: Das ist so schön, wie ihr das ausgelegt habt. In der Neustädter Straße ging so etwas nicht mehr, da gab es sogar eine Nachtruhe.
 
RG: Ja, ich war noch zweimal danach in der Neustädter Straße, um mal zu gucken. Ich war entsetzt, als ich die neue Mission gesehen habe. Während der Dienstzeit gab es bei uns noch Alkoholverbot. Kein Mitarbeiter durfte während seiner Arbeitszeit trinken. Wenn er frei hatte, kein Problem, aber wenn er Dienst hatte: Alkoholverbot. Jetzt komme ich in die Neustädter Straße rein und sehe alle am Tresen sitzen, alle saufen und auch noch kostenlos. Also wie gesagt, das habe ich zweimal mitgemacht und dann war ich komplett raus.
 
AU: Wieso warst du denn eigentlich gegangen?
 
RG: Ich habe im Oktober 1999 hier auf der Reeperbahn in der Spielhalle angefangen. Das waren dann fünf, sechs Tage die Woche plus die Mission, wo ich auch noch mal so 40 bis 50 Stunden verbracht habe. Ich habe das ein paar Jahre gemacht, bis 2005/2006 und dann habe ich gemerkt, dass ich das nicht mehr kann.
 
AU: Das ist ein wahnsinniges Pensum. Ich habe mich bei vielen von euch gefragt, wie man das über Jahre durchhalten kann, dieses Arbeitspensum zu haben und das auch noch unentgeltlich.
 
RG: Du kannst das schaffen, wenn dir etwas am Herzen liegt und wenn du Spaß dran hast, dann kannst du es machen. Aber irgendwann kommt dann auch der Punkt, an dem es nicht mehr geht. Und dann habe ich aufgehört. Für mich war es die richtige Entscheidung. Für die Mission vielleicht nicht.
 
AU: Nochmal zurück zum Programm: Was war dir da wichtig, also bei der Auswahl?
 
RG: Vorher haben es ja die Schauspieler übernommen, die haben das Programm gemacht. Es waren vier Schauspieler im Vorstand des Vereins. Aber nachdem wir umgezogen sind, war der Weg weiter vom Deutschen Schauspielhaus zur neuen Mission. Nach und nach schlief die Verbindung ein. Also haben wir gesagt, wir machen selber Programm. Der Vorstand war einverstanden und dann habe ich Programm gemacht. Das heißt, ich habe telefoniert mit irgendwelchen Studenten: „Wer hat irgendeine Band, wer möchte was machen?“ Dann haben wir auch in der Zeitung einen Band-Wettbewerb angekündigt für Freitag und Samstag. Da haben sich unheimlich viele Gruppen gemeldet. Dann haben wir auf der Bühne eine Theatergruppe gehabt, die Verbindungen zum Schauspielhaus hatte. Die kamen aus Tschechien, die wollten bei uns schlafen und auftreten. Dann gab es Verbindungen zur Staatsoper, da hatte ich eine Sängerin, die russische Lieder gesungen hat. Oder Brot und Spiele. Oder wir haben selber was gemacht. Es gab sechs Tage die Woche Programm, einen Tag hatten wir zu. An den anderen gab es Filmabende oder Fernsehabende, es gab Diskussionen, politische Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen. Ja, das war eigentlich das Programm der Mission.
 
AU: Und wie war das Verhältnis zwischen denen, die da auf der Bühne standen und Auftritte gemacht haben, und dem Publikum?
 
RG: Also ganz ehrlich, das war sehr gut. Die Künstler, die auf der Bühne waren, haben ein sehr dankbares Publikum gehabt. Und die Obdachlosen? Für die war es etwas anderes, man hat sich um sie gekümmert, ihnen wurde etwas geboten, was sie sonst nicht hatten. Obdachlose können nicht ins Theater gehen oder in irgendeinen Club, aber in der Mission hat man es ihnen geliefert. Das war dann bis abends um zehn oder elf Uhr, bei Club Nächten war es bis morgens drei, vier oder fünf Uhr. Ja, sehr viele Obdachlose haben sich da wohlgefühlt. Und wir waren unabhängig. Das darf man nicht vergessen. Du kennst vielleicht Café mit Herz unten in der Bernhard-Nocht-Straße, von da kam der Vorschlag, dass sich alle Obdachlosenhilfe verbinden sollten. Das fand ich einen guten Vorschlag, aber das ist nachher daran gescheitert, dass die Mission das meiste Geld hatte. Die wollten an unser Geld ran und da habe ich Nein gesagt. Wir verdienen schwer unser Geld für die Obdachlosen und finanzieren alles. Weil ihr Spendenaufkommen gering war und die sich sogar davon auch Gehälter gezahlt haben, haben wir Nein gesagt. Ich habe Nein gesagt. Dazu kamen dann noch Vorfälle beim Café mit Herz, da arbeiteten zwei Jungs in der Kleiderkammer und die haben Leute erpresst, vor allem Mädchen. Und da habe ich gesagt: Mit dem Laden keine Verbindung, schmeißt die raus, die die Mädchen erpressen. Ist nicht passiert. Bei uns haben die Hausverbot gehabt. Sowas ging nicht.
 
AU: Wie habt ihr denn so etwas diskutiert, wie habt ihr eure Regeln erarbeitet?
 
RG: Die Regeln kamen von mir, Obdachlose brauchen auch eine feste Struktur und sie müssen jemanden haben, den sie respektieren. Und die Regeln waren eigentlich ganz einfach. Wer in der Mission mitarbeiten wollte, der durfte das, aber vorher haben alle Mitarbeiter entschieden: Passt der zu uns oder passt der nicht zu uns. Man hat ein, zwei Tage Probearbeiten gehabt und dann haben die Mitarbeiter sich hingesetzt und entschieden: Der darf bei uns mitarbeiten oder nicht. Die Regeln „kein Alkohol während der Dienstzeit“ kam von mir, „Dienstplan einhalten“ kam von mir. Das war es eigentlich. Das waren die einfachsten Regeln. 
Wir hatten damals den Schauspieler Peter Brombacher als Vorsitzenden. Da waren noch drei, also vier Leute im Vorstand, es waren immer Leute vom Schauspielhaus. Bis ich zu Peter gesagt habe: „Wir machen hier die Arbeit, ihr seid weit weg. Wir brauchen zumindest einen im Vorstand, der auch unsere Interessen vertritt. Ihr habt ein Wahlrecht während einer Hauptversammlung, das hätten die Mitarbeiter auch gern.“ Mit Peter war gut reden, alle Mitarbeiter waren gleichzeitig Mitglieder im Verein. Dann haben wir einen Obdachlosen in den Vorstand reingekriegt, das war Bernd Hilke. Und bei der nächsten Wahl waren es vier Obdachlose. Und zwar waren es drei Leute von dem bewussten Tisch von der ersten Mission plus Bernd Hilke. Damit waren wir vier Leute, es waren nur noch Obdachlose. Kann man sich heute nicht vorstellen. Ja, aber die wussten alle, die Mission ist in guten Händen. Viele sind noch vorbeigekommen, Markus Scholz ist gekommen zum Fotografieren. Ich denke, der hat sich auch immer wohlgefühlt, hat sich manchmal gewundert, dass es uns immer noch gab.
 
AU: Markus Scholz war von denen, die nicht obdachlos waren, einer, der noch am längsten immer wieder dazu gekommen ist. Die anderen sind ja tatsächlich irgendwann weitergezogen und haben die Mission scheinbar vergessen..
 
RG: Ja, sowas gab es. Wobei man natürlich auch wissen muss, den ersten Leiter der Mission in der Ernst-Merck-Str., Lothar, haben wir nachher gefeuert. Der hat zweieinhalbtausend DM verloren. Er hat die in der Hosentasche gehabt und hat dann zweieinhalbtausend Mark Gelder der Mission verloren. Und der hat sich teilweise auch selbst bedient und hat auch von den Schauspielern damals die Erlaubnis gehabt, er darf sich 1000 DM pro Monat nehmen. Und dann verliert der Junge auf der Bühne zweieinhalbtausend DM Missionsgelder – abgesägt haben wir den. Dann haben wir Bernd Hilke, der auch ein Obdachloser war. Der war Vorsitzender, den haben wir auch abgesägt. Was heißt wir – ich. Der hat mit dem Koch zusammen Geschäfte gemacht, die haben Spenden bekommen und privat weiterverkauft. Die sind zum Schlachter gegangen, haben Spenden geholt und haben die privat weiterverkauft auf eigene Rechnung. Und das geht gar nicht: Im Namen der Mission Spenden einsammeln und dann verkaufen? Nein. 
Danach kam der andere Bernd, der wurde dann Koch. Der war auch im Vorstand, Andrew war im Vorstand und ich im Vorstand. Ja und dann haben wir immer noch einen dazu geholt. Es hat mit allen Obdachlosen geklappt, aber es brauchte feste Regeln. Wir hatten ja die Satzung, da haben wir uns größtenteils dran gehalten. Nachdem Peter Brombacher weg war und Bernd Hilke geschasst, kam Andrew [Saathoff], der war auch von meinem Tisch. Der war erst auch Vorsitzender, den haben wir aber auch rausgeworfen. Nach jeder Wahl musste man zum Notar und sich eintragen lassen im Vereinsregister. Einmal hat er mir nicht erzählt, dass sich einer nicht eingetragen hat. Der zweite Vorsitzende ist nicht zum Notar gegangen und hat sich nicht eintragen lassen. Daraufhin kam vom Amtsgericht die Anordnung: Schließung der Mission. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Auf einen Sonntagabend sagt mir ein Gast: Die Mission gibt es bald nicht mehr, ihr werdet geschlossen. Ich wusste von nichts. Das war auf einen Sonntag. Ich habe jeden Sonntag „Von Mensch zu Mensch“ gemacht. Obdachlose, also unsere Gäste, durften Fragen an uns stellen. Ich war die Verbindung zu den Helfern. Wenn die Beschwerden hatten, gab es extra einen Briefkasten. Da haben sie ihre Fragen reingetan und Sonntag Abend habe ich die beantwortet. Und dann war da der Zettel drin: Ihr habt eine Strafe von 5.000 Euro bekommen, ihr müsst schließen.
 
AU: Was war das für ein System mit den Fragen?
 
RG: Das waren teilweise Beschwerden über Helfer, wenn die sich daneben benommen haben. Ich war ja mit im Vorstand, aber ich war neutral. Also der Respekt der Gäste und der Helfer gegenüber mir war sehr groß. Es hieß immer, wenn ich irgendwo reinkam, „der Alte kommt“. Es gab alle mögliche Fragen, auch Vorschläge, was man an Programm machen könnte, dass wir länger aufmachen, früher aufmachen, dass wir sieben Tage die Woche aufmachen müssen. Solche Fragen und Vorschläge gab es. Beschwerden über die Helfer gab es immer. Da musst du dann vermitteln und beiden Seiten gerecht werden. Ich habe auch Helfer in die Pfanne gehauen, wenn die Scheiße gebaut haben. Am Anfang hieß es auch: Keine Drogen in der Mission. Wer Drogen nimmt, fliegt raus, sofort und mit Hausverbot, auch Obdachlose können Hausverbot bei uns kriegen. Oder wenn es keine Clubnächte waren, gab es ein Alkoholverbot. Es gab dann keinen Alkohol in der Mission und wer es trotzdem gemacht hat, geht für den Tag raus. Bei Drogen für immer Hausverbot, für alle Zeit, bei Alkohol kann man am nächsten Tag wieder kommen. Das waren solche Fragen, die dann bei „von Mensch zu Mensch“ kamen. Oder auch Streitigkeiten untereinander: Denn man darf nicht vergessen, es waren alles Leute, die auf der Straße leben. Da ist das Gewaltpotenzial etwas höher.
 
AU: Aber dafür kam es ja erstaunlich wenig zu Konflikten, oder?
 
RG: Es gab innerhalb der Mission mit den Obdachlosen niemals Konflikte, die man nicht gleich mit Worten lösen konnte. Die gab es nie. Probleme gab es mit Gästen, die zu Clubnächten gekommen sind. Bedauerlicherweise. Wir hatten einmal ein Punk-Konzert auf einen Sonnabend und ich musste leider arbeiten in der Spielhalle. Und das ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Die haben dann Flaschen auf die Straße geworfen vor der Mission, bis die Polizei kam. Das war eine Eskalation, die nicht geplant war.
Wir hatten auch vorher Punkkonzerte, aber da war ich immer dabei, bei uns war immer Ruhe, das gab es nicht. Diese eine Nacht hat auch ein bisschen was kaputt gemacht. Danach waren alle Politiker und auch unser Vermieter entsetzt, dass wir Konzerte veranstalten. Das war nicht vorgesehen, vor allen Dingen mit vier bis fünfhundert Gästen nicht.
 
AU: Und dann wurde das Problem der fehlenden Notausgänge entdeckt? Beziehungsweise vorgeschoben?
 
RG: Zwischendurch gab es auch Beschwerden von Anwohnern. Die Mission hatte keine Klimaanlage, deswegen haben wir die Türen aufgemacht, man konnte sonst nicht atmen. Also musste eine Klimaanlage her. So eine Anlage hat, glaube ich, insgesamt 50.000 Euro gekostet. Einen großen Teil hat das Hamburger Spendenparlament übernommen, da war ich auch hingegangen, um für Spenden zu bitten für diese Klimaanlage. Die andere Hälfte haben wir von der Behörde bekommen und außerdem selber gezahlt. Und danach war das Problem eigentlich gelöst. Mit der Lautstärke. Notausgang gab es nicht.
 
AU: Deswegen dachte ich, dass irgendwann die Konzerte verboten wurden?
 
RG: Die waren entsetzt, dass überhaupt Konzerte stattfanden. Offiziell wussten sie das gar nicht. Ich habe nachgeguckt: Es waren über 150 Konzerte, bis sie auf die Idee kamen, dass die nicht erlaubt waren. Die Übernachtungen waren auch nicht erlaubt. Heimlich haben wir uns getroffen und verabredet: natürlich geht es weiter. Natürlich, das war die Mission.
 
AU: Und was für ein Publikum hattet ihr? Vor allem das Stammpublikum oder hat sich das zu den Veranstaltungen schon noch gemischt?
 
RG: Etwa 80 bis 100 Leute kamen jeden Tag. Wenn wir Programm gemacht haben, meinetwegen Musik oder Theater, dann kamen auch Leute von außerhalb mit rein. Wir haben zwei große Glasfronten gehabt, man konnte reingucken. Die Mission hatte keinen Vorhang davor, sondern es war offen. Und es sind auch sehr viele Leute gekommen und haben sich gefragt, was das für ein Laden ist. Und es hat sich zu der Zeit auch rumgesprochen. Wer einmal bei uns aufgetreten ist, der ist immer wieder gekommen. Ich hatte so einen Karteikasten, da waren 300 Bands, Einzelkünstler, Theatergruppen etc. drin, die ich dann permanent nach einer gewissen Zeit wieder angerufen habe. Und die sind immer gerne wieder gekommen.
 
AU: Und was war für dich das Künstlerische an dem Projekt eigentlich? War es die Kunst auf der Bühne oder war es eigentlich eher das Projekt in sich?
 
RG: Das Projekt an sich war eigentlich das Entscheidende, es war ein Raum für Obdachlose. Ich war ja selbst obdachlos in den ersten zwei Jahren zumindest. Für mich war entscheidend, dass man da einfach Raum gegeben hat und über Regeln auch reden konnte. Wenn du woanders hingegangen bist als Obdachloser, da gab es so starre Regeln, die wurden dann von oben aufgedrückt. Hier haben Obdachlose die Regeln gemacht, das war was ganz anderes. Und wir waren keine bezahlten Kräfte, wenn man von der Fahrkarte absieht. Die Leute, die bei uns gearbeitet haben oder die mit mir oder mit uns gearbeitet haben, die haben auch ihren eigenen Vorteil gesehen. Die konnten da übernachten. Sie hatten auch ein Dach über dem Kopf, was für Obdachlose sehr wichtig ist. Und das haben wir geboten. Und dann die Abstimmung aller Helfer: Darf der bei uns bleiben oder darf er nicht bleiben? Ich fand das sehr demokratisch. Die Vorstandswahlen waren nachher nicht mehr demokratisch. In dem Verein haben die Obdachlosen als Helfer nachher die Mehrheit gehabt, ich wusste also eigentlich vorher schon, wer was wird. Es war trotzdem immer eine freie und geheime Wahl. Aber Peter Brombacher hat damals auch gesagt: „Rudi, dir kann es egal sein, wer im Vorstand ist, du machst sowieso dein Ding.“ Oder Frank Baumbauer, den vergessen die Leute immer: Der Initiator der Mission von Christoph Schlingensief, ist eigentlich Frank Baumbauer gewesen, der Intendant des Deutschen Schauspielhauses damals. Der hatte die Idee gehabt: Ich hole Christoph Schlingensief, der macht so was. Christoph gibt es ja leider auch nicht mehr. Bei Schlingensief sind wir auch in Berlin aufgetreten – bei der Wahl 1998 mit „Chance 2000“ in so einem Zirkuszelt. Also das war nett, auch privat mit ihm.
 
AU: Also die Verbindung mit Christoph Schlingensief blieb erhalten?
 
RG: Ja, die blieb und war nachher sogar sehr gut. Wir haben uns sehr gut verstanden. Christoph war so eine Art Provokateur. Stell dir vor, es ist Heiligabend in der Ernst-Merck-Straße, in der ersten Mission: Alles schön gedeckte Tische, Rotkohl gab es, Gänsekeulen – war alles sehr schön gemacht. Und dann kam Christoph auf die Bühne und will uns erzählen: „Und jetzt gehen wir alle raus auf die Straße, mit den Tischen und schmeißen das Essen runter, wir ziehen einfach die Tischdecken weg und das Essen fällt runter.“ Wir sind Obdachlose. Wir sitzen Heiligabend da, freuen uns auf dieses Essen und da kommt ein Typ an und sagt uns: „Jetzt gehen wir mit den Tischen auf die Straße und schmeißen das Essen runter. Gibt schöne Bilder.“ Mein Tisch – die vier Leute, von denen ich dir erzählt habe – wir haben uns geweigert. Daraufhin haben alle anderen Obdachlosen das auch gemacht und dann hat er die Aktion abgesagt. Aber ab da war ich für ihn Judas, ich habe ihn verraten. Ich habe ihm immer versucht zu erklären: „Pass mal auf: Heiligabend Gänsekeule, Rotkohl und solche Klößchen und wir sollen das auf die Straße werfen? Was macht das für einen Eindruck? Für dich als Künstler ist es scheißegal, du kannst dir das jeden Tag leisten, Obdachlose nicht.“ Aber wir haben uns nachher wirklich gut verstanden.
 
AU: Das Publikum hat also auch die Kunst herausgefordert.
 
RG: Ja. Ihm ging es um Bilder und uns ging es ums Essen. Ich habe aber nachher auch provoziert. Ich habe mich mit der Kirche angelegt. Als ich in der neuen Mission damals war, habe ich überlegt, was man den Obdachlosen zu Weihnachten bieten kann. Dann hatten wir eine erotische Tänzerin auf der Bühne an Heiligabend in der Mission. Ja, drei Tage später stand es in der Zeitung: Morgenpost, Abendblatt und die Kirche hat sich auch dazu geäußert, wie die Mission dazu kommen würde, für Obdachlose sowas am Heiligen Abend zu teilen. Meine Reaktion war: „Kommt mal zur nächsten Filmnacht. Es gibt drei Sex-Filme hintereinander.“ Dann habe ich drei Sex-Filme hintereinander gezeigt und danach war Ruhe.
Das ist meistens auch nur Heuchelei gewesen von der Kirche. Warum nicht mal etwas anders machen? Ich habe zum Beispiel auch die Frauen-WM damals bei uns gezeigt. Erst war Gelächter. Dann kam das erste Spiel, Deutschland:Russland 16:0. Die waren begeistert. Ab da gab es bei uns Frauenfußball, was heute gerade in Mode kommt, das haben wir damals schon gemacht. 
AU: Kannst du nochmal erzählen, wie der Prozess war, dass ihr am Ende komplett selbstverwaltet wart?
 
RG: Ja, das war aber eine friedliche Übernahme mit Einverständnis der Schauspieler, die auch gemerkt haben: Die Entfernung Schauspielhaus–Mission ist nun ein bisschen weit, da können wir nicht jeden Tag vorbeigehen. Insofern fand da eine gewisse Entfremdung statt. Und ich denke mal, die beste Lösung war die Übernahme durch die Obdachlosen des Vereins. Die „normalen“ Mitglieder in Anführungszeichen und wir. Wir haben uns ja regelmäßig zwar nicht mehr zu Vorstandssitzungen, aber zu Jahreshauptversammlungen getroffen und die kamen auch zwischendurch mal rein. Ja, aber der Kontakt war nicht mehr so eng wie vorher durch die Entfernung. Bei der HFBK kam der Kontakt ja mit Jelka [Plate], aber die Entfernung spielt eine gewisse Rolle. Bei den Schauspielern war es dazu noch so, dass die ja nicht permanent hier im Deutschen Schauspielhaus engagiert sind, sondern auch in alle Herren Länder abgehauen sind. Die haben da mal ein Engagement angenommen oder da. Und die Schauspieler vom Deutschen Schauspielhaus der ersten Stunde, die waren alle irgendwann weg. Insofern war die Übernahme durch die Obdachlosen die beste Lösung, um überhaupt das Fortbestehen der Mission zu gewährleisten.
 
AU: Es macht wahrscheinlich auch einen Unterschied, ob du ein eigenes langfristiges Interesse an so einem Raum hast. Also ich will nicht Künstler*innen unterstellen, dass sie nur aus einer Laune heraus oder gar aus Karrieregründen handeln, aber es ist natürlich kein existenzielles Interesse.
  
RG: Ich glaube bei allen, die in der Mission vom Schauspielhaus mitgemacht haben, war es wirklich kein Eigeninteresse, sondern einfach nur das Helfen. Es ist natürlich interessant bei so einem Projekt einfach teilzunehmen, auf die Straße zu gehen, sichtbar zu sein, durch die Mönckebergstraße zu ziehen, Scientology und den Bunker am Hauptbahnhof zu besuchen. Das ist eine ganz neue Erfahrung gewesen.
 
AU: Aber hat euch ohne den direkten Kontakt zum Schauspielhaus dann nicht später der Rückhalt dieser großen Institution gefehlt?
 
RG: Wir wurden nachher auch eigenständig als Mission ernst genommen – sonst wäre ja nicht die zweite Bürgermeisterin zu uns gekommen und die Parteien wären nicht alle gekommen. Wir wurden ernst genommen. Ich habe auch Einladungen zu Sommerfesten bekommen, zum Beispiel zu den Grünen aufs Sommerfest. Und wer kam da noch? Der Arbeitsminister, der heutige Kanzler Olaf Scholz. Ich habe dir ja erzählt, dass ich die SPD quasi ausgeladen hatte. Und Scholz sagte dann zu mir auf dem Sommerfest, dass er das genauso gemacht hätte, aber das natürlich nicht sagen darf. Wie gesagt, die Verbindung war eigentlich sehr gut. Wir waren ein Vorzeigeprojekt: Obdachlose, die sich quasi selbst verwalten – ohne Stress und ohne Ärger zu machen. Wir waren da und wir waren eigentlich nicht da. Aber man wusste, wo man uns findet.
 
AU: Auf eine Weise wart ihr damit aber auch ein ehrenamtlicher Ersatz für Leistungen, die eigentlich hätte der Staat übernehmen müssen?
 
RG: Es stimmt, der Staat wurde entlastet. Zum Beispiel hat uns auch die Hamburger Tafel täglich beliefert, was heute gar nicht mehr möglich ist. Täglich wurde die Mission mit Spenden, sogar Kuchen, angefahren und das wurde auch eins zu eins an unsere Gäste rausgegeben. Da wurde nichts privat genommen, sondern jeder Gast konnte sehen, was von der Tafel reinkam und dass es auch oben verteilt worden ist. Das war wichtig. An der Theke, die wir gebaut hatten, gab es verschiedene Körbe. Der Kuchen kam rein und gleich auf den Tresen, nichts wurde einfach in die Küche gebracht, höchstens das Gemüse zum Putzen. Die Leute mussten sehen, dass da nichts verschwand. Die Helfer durften sich aber auch bedienen, darüber hatten wir dann teilweise Streit. Bei „Von Mensch zu Mensch“ fand ich einen Zettel, auf dem stand: „Warum dürfen die Helfer sich auch bedienen?“ Darauf meine Antwort: „Die Helfer sind genauso obdachlos wie ihr auch, nur dass sie hier eine Leistung erbringen, schlafen und arbeiten. Warum sollen sie schlechter gestellt sein als ihr? Wenn ihr das so seht, dann können wir die Spenden auch erstmal nur an die Helfer verteilen und danach kommt ihr dran. So wie überall anders. Wollt ihr das?“ Danach war Ruhe. Denn die Helfer schlechter zu stellen als unsere Gäste, das ging gar nicht. Das war aber einer von vielen Streitpunkten zwischen Gästen und Helfern.
 
AU: Manchmal sprichst du von Helfern, manchmal von Mitarbeitern. Gab es da einen Unterschied?
 
RG: Die Helfer waren immer auch gleichzeitig mit im Verein. Mitarbeiter waren Leute, die mal gelegentlich für ein oder zwei Stunden mitgeholfen haben. Die haben die gleiche Arbeit gemacht wie die Helfer, aber sie waren nicht fester Bestandteil des Stammes. Mitarbeiter konnte jeder werden, da konnte ich einem Gast sagen: „Pass auf, willst du heute mal eine Stunde mitarbeiten?“ Aber das macht ihn noch nicht zum festen Helfer, deshalb dieser Unterschied.
 
AU: Interessant. Der Mitarbeiter klingt für mich nach dem ordentlichen Betriebsmitarbeiter und der Helfer weniger gebunden, aber aus einer eigenen Motivation heraus arbeitend.
Ich möchte nun nochmal auf die erste Kündigung in der Ernst-Merck-Straße zu sprechen kommen. Damals habt ihr einen Runden Tisch einberufen, seid also selbst politisch aktiv geworden?
 
RG: Ja, aber zu dem Thema kann ich wenig sagen. In der Ernst-Merck-Straße gab es nur die Schauspieler bzw. das Deutsche Schauspielhaus, da waren noch keine Obdachlosen in irgendwelchen Funktionen. Das ist quasi in Hinterzimmern – hätte ich beinahe gesagt – entschieden worden.
 
AU: Aha, dann waren in der Runde keine Menschen beteiligt, die obdachlos waren und sich dort politisch selbst vertreten haben?
 
RG: Die Obdachlosen wurden durch die Schauspieler vertreten oder durch das Deutsche Schauspielhaus. Es gab außerdem öffentlich auf dem Hachmannplatz vor dem Hauptbahnhof den Hinweis, dass die Mission geschlossen werden sollte. Dann wurden neue Räumlichkeiten gesucht und auch gefunden, wir bekamen das Angebot der Stadt für die große Mission in der Kaiser-Wilhelm-Straße. Und ich denke mal, das geht hauptsächlich auf die Verbindung Deutsches Schauspielhaus, Behörde und Sprinkenhof AG als Vermieter zurück. 
 
AU: Aber den Umzug hast du mitgemacht?
 
RG: Als der Umzug stattfand, war ich schon Helfer. Und dann sind wir mit dem Baldachin-Zelt – vier Mann, vier Ecken – durch die Stadt gezogen, mit Musik und Aufnahmen. Es folgte die Übernahme der neuen Mission, das waren kahle Räume – kahl wie eine Lagerhalle. Und die wurde langsam mit Leben erfüllt. Da gab es diese Treppe: Eine Holztreppe, die steil nach unten ging, die werde ich nie vergessen. Unten waren die Toiletten und das Lager, das Büro und die Küche. Diese Treppe mussten alle, Helfer und Gäste, runtergehen, um auf Toilette zu gehen. Heute unvorstellbar. Die war etwa so breit. Einer rauf, einer runter – es war chaotisch.
 
AU: Und daneben war sogar noch die Küche?
 
RG: Die Küche war unten im Keller, da wurden Kühlräume eingebaut. Wir haben jede Menge Geld ausgegeben.  
 
AU: Gab es noch die Betten?
 
RG: Oben waren vier Betten. Wenn Leute in die Mission kamen und müde waren, konnten sie sich in die Betten legen. Aber wer zuerst kam, mahlt zuerst. Und ganz ehrlich: Wir waren keine Bank. Wir hatten andere Öffnungszeiten. Wenn die Bank sagt, „wir machen um neun auf“, machen die auch um neun auf. Wenn bei uns Leute vor der Tür standen, haben wir aufgemacht. Keine Bank-Mentalität: Wer draußen vor der Tür stand, konnte auch vorher schon reinkommen. Das haben die Leute dann soweit ausgenutzt, dass sie immer sofort auf die Betten wollten. Da haben wir gesagt: „Pass mal auf, wenn ihr jetzt immer früher dasteht, nur um die Betten zu kriegen, müssen wir dem einen Riegel vorschieben. Wir machen jetzt auch erst pünktlich auf, wie jede Bank. Damit jeder die gleiche Chance hat.“ Das haben sie auch eingesehen. Das war eine Regel, die mir zuwider war. Aber um eine gewisse Gerechtigkeit zu erfüllen, dass jeder auch die Chance hat auf eins dieser vier Betten, musste das sein. Sie sind aber auch an den Tischen eingeschlafen. Wir hatten zwei Sitzreihen hinten mit alten Kinositzen, die waren auch immer belegt und hatten den besten Überblick. Von da aus konnte man alles sehen. 
Bei der Essensausgabe mussten wir auch Regeln ändern: Am Anfang war es so, dass alle sofort zum Tresen stürzten. Danach haben wir eingeführt, dass tischweise aufgerufen wurde, wer sein Essen abholen konnte. Wir haben immer dazugelernt und Regeln aufgestellt.
 
AU: Sehr spannend, ihr musstet doch bestimmt auch immer wieder ausloten: Die Regeln innerhalb, die ihr euch selbst gebt, gegenüber der behördlichen Regeln und Erwartungshaltungen.
 
RG: Ein paar Gäste von uns haben am Anfang gedacht: „Okay, neuer Laden ohne Regeln! Wenn Obdachlose da arbeiten, gibt es ja keine Regeln.“ Und da mussten sie schmerzhaft erfahren: Es gibt doch Regeln. Im Zusammenleben mit mehr als zwei Leuten brauchst du gewisse Regeln und die müssen auch eingehalten werden. Gleichzeitig war aber sehr wichtig, dass die Gäste auch ernst genommen worden sind. Sie waren uns gleichgestellt und wurden nicht von oben herab behandelt. Und das gibt es sonst nirgendwo.
 
AU: Ich habe letztens den Film „Alles muß raus“ [Irene Bude und Olaf Sobczak, 1999] gesehen: Da trittst du auf und sagst nach dem Umzug in die Kamera, dass ihr ja auch „nicht pflegeleicht“ gewesen wärt. Das fand ich ganz schön und mir ist aufgefallen, dass ja beides sehr wichtig für das Projekt war: Einerseits, dass ihr widerspenstig bleibt und nicht einem Anpassungsdruck erliegt und andererseits aber auch die Zentralität und die Lage am Hauptbahnhof, die euch auch dadurch genommen wurde. Man wollte euch weghaben.
 
RG: Aber mal ganz praktisch: Die Mission dort war eh zu klein. Es waren nur sechs oder sieben Tische mit vier, fünf oder sechs Plätzen, also gerade genug für 40, maximal 50 Leute. Es war auch zu eng. Die Leute haben draußen gewartet. Die Helfer vom Schauspielhaus haben Einlassstopp gemacht, du durftest eine oder zwei Stunden rein und dann kamen die anderen dran. Das war nicht so schön. 
Oder auch die Sache mit uns vier: Wir haben uns an unserem Tisch gefunden und haben auch keine anderen rangelassen. Wir waren unter uns, wir haben Skat gespielt. Das passte den Schauspielern gar nicht. Monika Gintersdorfer, die Regieassistentin, hatte dann die glorreiche Idee, die Tische zu mischen. Die Gruppen werden getrennt und neu aufgeteilt. Wir durften also nicht mehr zusammensitzen. Die anderen drei haben mitgemacht. Ich nicht, ich bin gegangen. Ich habe gesagt: „Wenn mir vorgeschrieben wird, mit wem ich zusammensitzen muss, darf oder soll, komme ich nicht mehr.“ Drei Tage später wurde mir gesagt: „Okay, Rudi, du sollst wiederkommen. Die Regeln sind aufgehoben, ihr dürft wieder an einem Tisch sitzen.“
 
AU: Die Mission war schon als ein Ort angelegt, in dem alles erstmal ausgehandelt werden muss?
 
RG: Ja, es war eine Art Kuhhandel. Die Mission war immer im Fließen. Sie war nichts Festes, es war wirklich fließend und es gab immer eine Weiterentwicklung. Es war nicht so 0815.
 
AU: Das machte sich auch in der sich stets verändernden Gestaltung bemerkbar. Da wurde alles selbst in die Hand genommen. Irgendwann kam dann Schlingensief nochmal rein und hinterließ diesen Schriftzug an der Wand: Wir sind eine Firma?
 
RG: Ja, und jeder Abend in der Mission endete mit dem Lied: Freund, Freund, Freund. Das haben wir auch immer beibehalten, bis die CD im Eimer war. Aber im Laufe der Zeit gab es auch immer weniger Leute, die die Ernst-Merck-Straße oder die Wache noch kannten. Die Mission war nachher für die meisten nur die große Mission.
 
AU: Aber habt ihr die Geschichte von den Anfängen noch erzählt?
 
RG: Nein, eigentlich nicht.
 
AU: Aber selbst in der Neustädter Straße gab es doch noch einen Bezug zu den Anfängen und zu Schlingensiefs Ideen?
 
RG: Ja, wobei die Helfer, die zu dem Zeitpunkt da waren, vielleicht noch die Mission vor der Neustädter Straße kannten, aber nicht mehr die kleine Mission. Diese Anfänge können sie eigentlich nur von Bildern kennen. Es gab eigentlich später keine Leute mehr, die die Anfänge kannten, die waren alle weg. 
Auch Matthias: Der hatte den Laden leider nicht im Griff. Ganz ehrlich. In meiner Zeit waren die Finanzen gut, wir hatten sogar eine schwarze Kasse, heute kann ich das ja erzählen. Wir haben ja auch Getränke verkauft und da wurden immer circa 10% pro Woche abgezogen für die schwarze Kasse, für Notfälle. Ein Jahr später war ich noch mal in der Mission zur Hauptversammlung in der Neustädter Straße. Da war der Junge, der für die Finanzen zuständig war, gerade mit dem Geld abgehauen. Im Laufe der Zeit gab es mehrere solcher Vorfälle. Das kann nicht sein. Jahrelang baust du da so ein System auf mit Kontrolle, sodass keiner – außer mir damals –  alleine die Verfügung über das Geld hatte. Es mussten zwei Leute unterschreiben, damit man an das Missionskonto gehen konnte. Wir hatten keine Schulden, wir hatten eine schwarze Kasse, es war alles schön. Und dann hör ich, die Gelder sind weg. Oder veruntreut. Das hat mich schon gestört. Wenn jemand bei uns Scheiße gebaut hat, haben wir den immer gleich entsorgt.
Überhaupt, die Neustädter Straße mit den zwei Räumen und fast ohne Regeln, das hat mir gar nicht gefallen. Diese zwei Räume haben es geteilt. Was mir auch nicht gefallen hat: In dem zweiten Raum, wo auch der Tresen war, gab es einen Tisch, an dem nur die Helfer sitzen durften. Das gab es damals auch nicht, da haben sich die Helfer hingesetzt, wo eben Platz war. Das kann nicht wahr sein, dachte ich, da sitzt kein Mensch dran und trotzdem steht da „Stammtisch für Helfer“. Aber ich habe mir gesagt: „Rudi, du hast abgeschlossen damit. Ärgere dich nicht weiter. Es gibt andere Leute, andere Zeiten.“
 
AU: Und auch andere Möglichkeiten…
 
RG: Ja, es gab viele Einschränkungen: Sie durften keine Musik machen wegen der Lautstärke. Es gab keine Bühne. Ich habe da ein oder zweimal „Brot und Spiele“ noch gemacht. Aber das war zu ebener Erde und ohne Bühne, das war nicht mehr die Mission. Da ging es eigentlich nur noch um die Suppe, nicht mehr um die Kunst. Das hat sich getrennt. Eigentlich schade, aber die Möglichkeiten gab es ja nicht mehr. Die Bibliothek war noch da, wir hatten ein großes Regal, da konnte sich jeder Bücher nehmen zum Lesen. Das haben die in der Neustädter Straße auch noch gehabt, genauso den Kicker. Aber die Mission sah dreckig aus, sie war nicht mehr so sauber wie früher. Es war nicht mehr meine Mission. Und dann war der Abschied nicht ganz so schwer. Aber wenn ich jetzt so viel erzähle, dann wird der Abschied doch wieder schwer.
 
Dieses Gespräch ist Teil der Publikation „Die Mission. Kunst gegen Kälte 1997–2022” von Anna Ulmer, die sie im März 2024 als Masterarbeit im Fachbereich Design an der HFBK Hamburg veröffentlicht hat. 

Fotos: 1-3 Bieberhaus, 4+5 Kaiser-Wilhelm-Straße. 
Do, 09/19/2024 - 09:28
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