... man (nicht mehr) in Neukölln
... man (nicht mehr) in Neukölln
„Ich sitze in Neukölln. Ich hasse diesen Stadtteil. Die stumpfen, vom Suff leergeräumten Gesichter auf den Straßen verhageln mit bei jedem Rundgang die Laube. Sie tragen tote Blicke und von der Schwerkraft verzogene Münder zur Schau, darüber nicht selten alkoholische Popcornnasen, sogenannte Rosazea, innerlich aufgeplatzte, rot leuchtende Blumenkohlknollen, und Haare, die völlig schütter und kaputt sind, aber von einem Gummi zum dünnlichen Zopf getrimmt werden, der womöglich eine verschüttgegangene Kreuzberger Alternativität heraufbeschwören soll. Depressiv und lebensgebegut wanken die solchermaßen Bezopften mit den Nichtbezopften über die Straßen und scheinen Neukölln ebenso zu hassen wie ich. Man sieht es an den versteinerten Gesichtern, den abgewetzten Supermarkttüten, dem Billiggebäck: Hier ist alles nur noch reine, kaputte Gegenwart, und die Zukunft verheißt im besten Fall nichts als deren bloße Wiederholung bis zum Tod. Hier hat jemand seine Seele verkauft, nein, die Seele ist einfach verlorengegangen, oder sie war nie da. Die Migranten leben isolierter vor sich hin als in Kreuzberg und tragen zur frostigen Dispararität des Viertels ebenso bei wie die spanischen und amerikanischen Künstlertouristen, die gruppenweise in die neuen Cafés und Bars einfallen und stur unter sich bleiben, um bald wieder in alle Welt auseinanderzugehen. Hier hat keiner wirklich etwas mit dem anderen zu tun, und die Stimmung ist entweder verblödet aufgeputscht oder abgestumpft mies. Internetcafé reiht sich an Internetcafé, dazwischen ein paar Shishabars, in denen angeblich vor allem Geld gewaschen wird, dann noch eine menschenverachtende, futuristisch kalte und mit befremdlichen Shops vollgepackte Mall. Und immer wieder schnell zusammengezimmerte Bars mit affektierten Patchworkmenschen darin, full of themselves und trotzdem ach so leer.“
Aus: Die Welt im Rücken, (C) 2016 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin, S. 339/ 340