Dorffest vor dem Finale

Schwerpunkt: Dörfer

Dorffest vor dem Finale

Wer trifft sich an der Copacabana-Fanmeile?
Text: Laura Kemmer / Fotos: Frank Müller und Sandra Trautmann

Es ist eine Zeitreise. Hinter dem Tunnel zwischen Zuckerhut und Copacabana empfangen mich gemischte Gefühle. Der süßliche Duft nach Popcorn vermischt sich mit Bierdunst und weckt Erinnerungen an damals auf dem Kirchplatz. Dorfkinder kennen das. Wenn wieder Sommer ist, Freibad- und Ferienzeit und alle irgendwie gut drauf. Wenn Mama dich Sonntags ins neue Kleid zwingt und der Opa dich an die Hand nimmt. Dann streben alle auf die Dorfmitte zu - und es sieht doch so aus, als gäbe es diese kleine Gemeinschaft, verbunden durch ein Ritual, an einem Ort, seit immer.

 

Kurz vor der Copacabana das bunte Plastikbanner: „Aproveite“, Imperativ, genieße! Das hat etwas Zwanghaftes, auch das erinnert mich an früher. Tröööt. Die Vuvuzuela geht direkt ins Mark. Auf einmal bin ich angespannt, gehe in Abwehrhaltung. Denn da nähert sich die erste Horde grölender Männer in Lederhosen. Die Sprüche, die Pfiffe, die Grapscher. Das gehört dazu, sei nicht zickig, auf dem Dorffest amüsieren wir uns. Alle.

 

„Vom Tafelberg und Soweto, über die Strände Durbans und der Copacabana bis zum Eiffelturm und dem Hafen Sydneys“[1] – für die WM werden öffentliche Plätze zum FIFA-Fest für die vielen Fans, die sich das Stadion nicht leisten konnten. 2006 wurde „Fanmeile“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählt. Seitdem gibt es ein neues Ritual, alle vier Jahre zur Fußball-WM der Männer. Die Fanmeile will kosmopolitisches Flair, einen Hauch von Weltbürgertum versprühen – und damit genau das Gegenteil von dörflichem Provinzialismus sein.

 

Und doch scheinen Kokosnuss und Caipirinha heute austauschbar mit Bratwurst und Bockbier. Promenierende Hotpants statt Dorfschönheiten schieben sich langsam in Richtung Festplatz. Unterwegs die Attraktionen, Sambagruppen erinnern an Dorfkapellen, ein Schild kündigt den „revoltierenden Indio“ an, Folklore hier und dort. 

 

Im gleißenden Licht der brasilianischen Sonne wirkt das Szenario surreal. Genau wie die Preise, die in den vergangenen Monaten höher gestiegen sind als die Luftballons, die heute das Fanfest weithin sichtbar markieren. In den sozialen Netzwerken kursiert seit Anfang des Jahres eine Banknote mit Dali-Konterfei, auch „Surreal“ genannt in Anspielung auf die hiesige Währung „Real“. Vor der Viersternekulisse der Copacabana sind die Straßenhändler dem Fanshop gewichen, dessen plüschige Fuleco-Türme an Schießbudenfiguren erinnern. Auf der Mauer nebenan auf einmal die Frage, die schon damals in der Luft lag: „Copa pra quem?“. Für wen ist diese Copa? Ich frage mich: Wer war eigentlich damals beim Dorffest mit dabei?

 

Bei Ankunft der deutschen Fußballelf fühlte sich der DFB-Generalsekretär willkommen geheißen „von Menschen, Frauen und Kindern”[2]. Homophobie und Sexismus, wer das nicht erträgt, ist fehl – am Fußball- und am Dorfplatz. Die Puto-Affaire, in der die FIFA Sanktionen gegen die homophoben Rufe mexikanischer Fans erwogen hatte, wird allgemein heruntergespielt. Das wird doch nur im Stadion gesagt, was auf dem Dorfplatz passiert, bleibt dort. Wem das nicht passt, der bleibt besser draußen.

 

Das war schon immer so. Aggressivität getarnt als Ausgelassenheit. Am Fanfest braust ein Tarnfarben-Jeep vorbei. Das Totenkopfzeichen unter der Aufschrift „B.O.P.E“ (Bataillon für spezielle Polizeioperationen) erinnert an eine Rockerbande. Wenn die kamen, wurde es damals Zeit zu gehen auf dem Dorfplatz. Hier an der Copa überwachen sie die Spaßverderber. Heute protestiert das „Volkskomitee WM und Olympia“ (Comitê Popular Copa e Olimpíadas). Schwarze Kreuze auf weißem Sand haben die Aktivist_innen aufgestellt um auf die gewaltvollen Umsiedlungen im Vorfeld der Grossprojekte WM und Olympia hinzuweisen. Eine von ihnen ist Leila, die „das Fest als Ausrede für weitere Immobilienspekulationen“ sieht.

 

Seit Beginn der WM hat es 250 Millionen solcher Umsiedlungsmaßnahmen gegeben, so erklärt ein Schild neben den Friedhofskreuzen. Unter den 19 Namen der als Favelas bekannten Comunidades (Gemeinschaften), welche die Kreuze im Sand mit konkreten Orten gewaltsamer Verdrängung verbinden, alte Bekannte: Die dank Michael Jacksons „They don’t really care about us“ weltberühmte Santa Marta, welche 2008 als erste durch die Militärpolizei „pazifiziert“ wurde, ist heute beliebtester Anlaufpunkt für Tourist_innen mit Khaki-Hüten auf „Favela-Tour“. Jüngstes Beispiel für die Entdeckung der Favelas, welche meist an den Hügeln mit spektakulärster Aussicht kleben, ist Vidigal. „Gentrifizierung“ wird hier für alle Durchfahrenden sichtbar von den Bewohner_innen der kleinen Comunidad zwischen Ipanema und dem reichen Barra da Tijuca-Stadtteil auf einem Schild angeprangert. Ganz in Michael-Tradition hat auch David Beckham hier jüngst einen Spot gedreht. Und sich prompt für eine Million Reais ein Häuschen gekauft. Schließlich verbinden sich Fußball und Olympia auf wundersame Weise, in der Geschichte von Vila Autódromo. Dieses „gallische Dorf“, wie die Böll-Stiftung noch im April schrieb[3], hört seit zwei Jahren nicht auf, dem dort geplanten Olympiapark Widerstand zu leisten. Irgendwann kam sogar der UN-Sonderberater für Sport „Im Dienste von Frieden und Entwicklung“ vorbei. Es war Willi Lemke, Ex-Manager des SV Werder Bremen.

 

Wie damals auf dem Dorffest wird das Feiern der Gemeinschaft von kommerziellen Interessen flankiert. Fußball lässt auch den Rubel rollen, das wird klar neben diesem Dorffest mit Metalldetektor. „Ordem e Progresso“-Fahnen haben hier Zugang, Transparente und Aktvismus „contrary to public order“ nicht. Vor meinem inneren Auge zerbröckeln die an der Copa gebauten Sandburgen, die an mittelalterliche Dörfer in Brasilienfarben erinnern, genauso wie damals die harmonische Gemeinschaft auf dem Dorfplatz. Der Zusammenhalt in Rio findet jenseits der Strandpromenade statt, zwischen den Comunidades auf den Hügeln.

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