Die politische Ökonomie des Bauens in Berlin
Die politische Ökonomie des Bauens in Berlin
Verena von Beckerath, Tim Heide, Peter Tschada, Anna Weber und Marc Frohn im Gespräch mit Anh-Linh Ngo in ARCH+ 242
Berlins Grund und Boden wurde vom Senat seit der Wende nach und nach verkauft, die Wohnungsbestände privatisiert. Profitorientierte Investoren übernahmen kurzerhand die Stadt und trieben die Preise der Baugrundstücke und die Mieten in die Höhe. Als Architekt*in kann man sich mit der Situation abfinden und Auftrag für Auftrag wortlos abarbeiten. Oder aber man versucht, mit Überzeugungsarbeit und Eigeninitiative alternative Finanzierungs- und Entwicklungsmodelle anzu-bieten. Angesichts der Wohnungsnot sollen in Berlin in den nächsten 20 Jahren zigtausende Wohnungen neu gebaut werden. Der enorme zeitliche und politische Druck, unter dem die öffentlichen Auftraggeber stehen, birgt die Gefahr, dass Quantität statt Qualität die Oberhand gewinnt. Welche Handlungsmacht haben Büros heute noch, um trotz aller Zwänge gute Architektur zu schaffen? Darüber sprach Anh-Linh Ngo mit Verena von Beckerath und Tim Heide (Heide & von Beckerath), Anna Weber und Peter Tschada (orange architekten) sowie mit Marc Frohn (FAR frohn&rojas).
Anh-Linh Ngo: Verena, Ihr habt 2019 für die kommunale Wohnungsbaugesellschaft HOWOGE in der Paul-Zobel-Straße in Lichtenberg Euer bislang größtes Wohnbauprojekt fertiggestellt. Es macht Hoffnung, dass der öffentliche Wohnungsbau wieder der Bereich werden kann, in dem im großen Maßstab neue Modelle erprobt werden, so wie man es aus dem Berlin der Weimarer Republik und der Nachkriegsjahre kennt. Jedoch haben sich die Verwaltungsreformen der Nachwendezeit, wie wir es in unserer Ausstellung 1989–2019: Politik des Raums im Neuen Berlin herausgearbeitet haben, verheerend auf das Denken der öffentlichen Hand ausgewirkt. Die damit verbundene Einführung unternehmerischer Elemente in der Verwaltung hat zu einer Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche geführt. Statt öffentliche Daseinsvorsorge trat eine vordergründige Dienstleistungsmentalität auf den Plan. Welche Erfahrungen habt Ihr vor diesem Hintergrund bei Eurer Zusammenarbeit mit der HOWOGE gemacht?
Verena von Beckerath: Die von Dir beschriebene Entwicklung hat in der Tat dazu geführt, dass die HOWOGE als eine der sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften einerseits den Auftrag hat, geförderten Wohnungsbau bereitzustellen. Andererseits ist sie aber auch angehalten, bis zu fünf Prozent Gewinn zu erwirtschaften. Das heißt, wir haben es mit einer Bauherrin zu tun, die zum einen der Stadt gehört und in ihrem Auftrag handelt und zum anderen auch unternehmerisch agiert. Da über die letzten Jahrzehnte kaum in den Neubau von Wohnungen investiert wurde, war die HOWOGE hauptsächlich damit beschäftigt, ihre relativ großen Wohnungsbestände im Stadtteil Lichtenberg zu verwalten. Im Zuge der Wohnungskrise und der neuen politischen Weichenstellungen wurde sie auf einmal damit konfrontiert, selbst neu bauen zu müssen. Dafür hatte sie zunächst keine Strategie, da die entsprechende Erfahrung fehlte. Auf diese Situation reagierte sie, wie ich finde, recht klug, indem sie eine neue Abteilung gründete, die für die Entwicklung und Realisierung von Wohnungsneubau verantwortlich ist. Zusätzlich wurden Expert--*innen aus der freien Wirtschaft geholt, die sich proaktiv für den Aufbau dieser Abteilung einsetzten: Man ist an die Universitäten gegangen, hat sich dort im Rahmen von Gastkritiken eingebracht, hat Studentenwettbewerbe ausgeschrieben, und den Kontakt zu Architekt-*innen gesucht. Darüber hat sich auch ein Gespräch mit uns entwickelt, und wir wurden eingeladen, Machbarkeitsstudien durchzuführen. Es wurde beispielsweise überlegt, wie Grundstücke entwickelt werden können, für die es keinen Bebauungsplan gibt oder die schwierig zu bebauen sind. Mit diesen Studien ist die HOWOGE dann an den Bezirk herangetreten, um auszuhandeln, was zum Beispiel im Inneren eines Plattenbaublocks möglich ist. So fing das in unserem Fall mit dem Projekt in Lichtenberg an.
ALN: Das Problem der mangelden Innovation bei öffentlichen Bauten liegt auch daran, dass die Vergabe meist an Referenzen gekoppelt ist, die viele jüngere oder experimentelle Büros gar nicht vorweisen können.
VvB: Ja, das ist in der Tat ein Problem. Als nach der Machbarkeitsstudie das Projekt für die Paul-Zobel-Straße 10/10A ausgeschrieben wurde, haben wir uns mit einem Portfolio aus drei Baugruppenprojekten beworben, von denen nur das IBeB am Blumengroßmarkt in Berlin-Kreuzberg größenmäßig als Referenz in Frage kam. Hinzu kam, dass man sich als Generalplaner bewerben musste, was wir noch nie gemacht hatten. Dafür stellten wir ein Team mit Bauleitungs-, Haustechnik- und Statikbüro sowie weiteren Fachleuten zusammen. Für junge Architekt-*innen ist das eine große Hürde, ohne ein strukturiertes Büro hätten wir diese Verantwortung nicht übernehmen können.
Es folgte dann ein mehrstufiges Bieterverfahren, aus dem unser Entwurf als Gewinner hervorging. Nach einem dreimonatigen Prozess wurde der Generalplanervertrag aufgesetzt und wir begannen relativ zügig, gemeinsam mit der HOWOGE an dem Projekt zu arbeiten. Dabei lag ein Großteil der Verantwortung auf unseren Schultern. Bereits in der Ausschreibung war ein Kostenrahmen fixiert, zu dessen Einhaltung wir uns vertraglich verpflichteten. Für uns war das mit Risiken verbunden, wir waren zu diesem Zeitpunkt eine GbR und hafteten selbstschuldnerisch. Das ist ein Aspekt, den man nicht vergessen darf, weil er zur Kon-struktion des Verhältnisses zwischen Architekturbüro und Auftraggeberin dazugehört.
ALN: Welcher Kostenrahmen galt bei dem Projekt?
VvB: Wir bewegen uns bei circa 1.400 Euro netto pro Quadratmeter Nutzfläche für die Kostengruppen 300 und 400, also die Kosten für das Bauwerk und die Haustechnik, ohne Grundstück und Freiraum. Zum Vergleich: Beim IBeB, das wir 2016–19 gemeinsam mit dem Büro ifau realisiert haben, lagen wir bei 1.900 Euro. Wir waren dafür verantwortlich, dass in Lichtenberg am Ende 30 Prozent der Wohnungen für 6,50 Euro pro Quadrat-meter vermietet werden können. Unter den gegebenen budgetären Bedingungen haben wir uns auf drei Themen konzentriert, die uns für diesen Ort und unter der Voraussetzung, dass es sich um geförderten und kostengünstigen Wohnungsbau handelt, wichtig waren.
ALN: Welche Schwerpunkte waren das?
VvB: Zum einen die Flexibilisierung der Grundrisse. Die Grundrisse der Regelgeschosse rotieren um die innenliegenden Treppenhäuser, und dieses Prinzip haben wir in den Wohnungsgrundrissen fortgesetzt, die um die Bad- und Küchenkerne angeordnet sind. So gelang es uns, Zwei-, Drei, Vier- und Fünf-Zimmer-Wohnungen auf einer Geschossebene zu mischen, wobei wir nicht zwischen freifinanzierten und geförderten Wohnungen unterschieden. Durch den rotierenden Wohnungsgrundriss konnten wir Türen und Wandel-emente so anordnen, dass sich größere Raumzusammenhänge ergaben. Bei geförderten Wohnungen gelten relativ rigorose Quadratmetervorgaben für jede Wohnung, die wir auch eingehalten haben, und die HOWOGE hat unseren Vorschlag für tendenziell offenere Grundrisse akzeptiert.
Der zweite Schwerpunkt war die nachhaltige Konstruktion, bei der wir auf die im kostengünstigen Wohnungsbau üblichen Wärmedämmverbundssysteme verzichteten. Wir haben mit einem Vollwandsystem aus massivem Porenbeton gearbeitet, das ohne zusätzliche Wärmedämmung auskommt. Außen wird nur noch Glattputz aufgetragen, weshalb die Häuser auffällig scharfe Kanten haben. Für die Balkone, die – wie die Wohnungen um den inneren Kern – um das Haus rotieren, haben wir ein Fertigteil entwickelt. Die größeren Wohnungen haben zwei und manchmal sogar drei Balkone, die kleineren einen. Der Entwurf kam mit einem einzigen Fenstertür-Typ aus. Das entspricht unserem generellen Zugang zum kostengünstigen Bauen: Wir arbeiten mit standardisierten Bauteilen und reduzieren die Elemente weitestgehend. Das ist aber auch im Bezug auf die Umgebung interessant. Unsere beiden Neubauten liegen inmitten von zehngeschossigen Plattenbauten in einem großen Hof, der in eine denkmalgeschützte Freianlage aus DDR-Zeiten, eine Kita und unseren Bau unterteilt ist. Uns ging es auch darum, dem historischen Erbe des standardisierten Großwohnungsbaus mit Respekt und im Dialog zu begegnen.
ALN: Die Entscheidung, mitten in einer Großwohnsiedlung nachzuverdichten, hat vielfältige Implikationen. Während Ihr architektonisch respektvoll an die Geschichte des Massenwohnungsbaus anknüpfen könnt, müsst Ihr das problematische städtebauliche Erbe überwinden, was man am Verhältnis der beiden Gebäude zum Kontext gut ablesen kann.
VvB: Wir haben uns aus diesem Grund intensiv mit dem öffentlichen Raum beschäftigt. Das war neben der Flexibilisierung der Wohnungsgrundrisse und der nachhaltigen Konstruktion das dritte Thema, das wir uns gesetzt haben. Die Frage war, wie das Haus auf den Boden kommt, also wie der Kontakt zwischen Erdgeschoss und öffentlichem Raum hergestellt wird. Statt einer abweisenden Sockelzone sollte sich der neu gestaltete Freiraum auch an den Bestand und dessen Bewohner-*innen richten, die es natürlich nicht gut fanden, dass dort neu gebaut wird, weil sie den Blick und die Offenheit des großen Hofes gewohnt waren. Wir haben sehr viel Augenmerk auf die Details gerichtet und zum Beispiel den Gedanken, dass das Erdgeschoss im Wortsinne eine Kontaktzone sein soll, bis in die materielle Beschaffenheit der Erdgeschossfassade verfolgt: Um sicherzustellen, dass sie robust genug ist, besteht sie aus Betonfertigteilen, damit Kinder und Jugendliche keine Angst haben müssen, auch Mal einen Ball dagegenzukicken.
ALN: Das Erdgeschoss bietet unterschiedliche Zugänge und Grade von Öffentlichkeit und Privatheit an, was ungewöhnlich ist für ein Projekt im geförderten Wohnungsbau.
VvB: Wir haben das Erdgeschoss gelegentlich als horizontales Relief bezeichnet, aus dem die Wohntürme emporwachsen. Ein großer Betonträger verbindet die Eingänge der beiden Häuser. Dadurch ergibt sich eine Art Vis-à-vis-Situation, ein gefasster Platz entsteht. Die Häuser verlieren ihren Charakter als Solitäre und werden als räumliches Ensemble lesbar. Teil dieses Reliefs sind auch Gemeinschaftswohnungen mit einzelnen Zimmern, die einen zusätzlichen eigenen Zugang besitzen. Es gibt in diesem Relief also privatere und öffentlichere Bereiche.
Tim Heide: Es war zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht klar, wer ins Erdgeschoss einziehen würde. Wir wussten nur, dass die Wohnungsbaugesellschaften mit sozialen Trägern, etwa der Obdach-losenhilfe oder dem Pflegedienst, zusammen-arbeiten. Hier sollen also Menschen wohnen, die sich das nicht ausgesucht haben und sich in prekären Lebenssitutationen befinden. Uns war es daher sehr wichtig, dass die Architektur nicht bevormundend ist, sondern die Bewohner-*innen in ihrer Würde bestärkt, indem sie ihnen Optionen anbietet. Wir haben daher beispielsweise eine doppelte Erschließung vorgeschlagen: Einerseits erfolgt sie durch den gemeinschaftlichen Eingangsbereich, andererseits haben die wohnungslosen Menschen, die hier schließlich eingezogen sind, auf der Rückseite der Gebäude einen individuellen Zugang über einzelne Plateaus und angehobene Vorgärten. Im Erdgeschoss gibt es neben den Hauseingängen außerdem große Fahrradräume, die so angelegt sind, dass man sie potentiell auch als Gemeinschaftsräume nutzen kann. Sie öffnen sich mit großen Falttüren zur Fläche zwischen den beiden Gebäuden hin, wir haben also versucht, eine Art Hof innerhalb des großen Hofs zu schaffen.
ALN: Über architektonische Setzungen habt Ihr innerhalb der strengen finanziellen und programmatischen Vorgaben des kommunalen Bauträgers Mehrwerte geschaffen, die über das Übliche hinausgehen. Neben der differenzierten Erdgeschosszone ist meiner Meinung nach das Rotationsprinzip der Grundrisse entscheidend für die Qualität des Projekts. Ihr habt den frei finanzierten und den sozial geförderten Wohnungsbau gleich behandelt und beide auf denselben Standard gehoben. Gibt es in den Häusern überhaupt eine Trennung in die beiden Bereiche?
TH: Theoretisch sind alle Wohnungen förderfähig. Es war der HOWOGE überlassen, zu entscheiden, welche Wohnungen sozial gefördert werden und welche nicht. Wir haben die Regularien einfach als Instrument genutzt, um innerhalb des Systems nach den entsprechenden Qualitäten zu suchen und gleichzeitig sehr ökonomisch vorzugehen.
ALN: Man könnte beide Häuser also auch zu 100 Prozent in geförderten Wohnungsbau umwandeln?
TH: Ja, das wäre möglich. Wir haben uns für diesen Ansatz auch entschieden, weil wir gar nicht festlegen wollten, wer in welche Wohnung einziehen soll. Wir haben uns stattdessen auf gleichwertige architektonische Qualitäten konzentriert. Die HOWOGE sah für sich darin wiederum eine gewisse Flexibilität in der Handhabe der Finanzierung und der Vermietung.
ALN: Mit einem Generalplanervertrag bürden sich Architekt-*innen zusätzliche Verantwortung auf. Ähnliches gilt für den Fall, dass man als Planende zugleich die Rolle eines Entwicklers, Bauträgers oder Bauherrn übernimmt. Als reine Entwurfsarchitekt-*innen kommt man heute allem Anschein nach nicht mehr weit, wenn man die Kontrolle über gewisse architektonische Qualitäten behalten will. Anna und Peter, in welche zusätzliche Rollen seid Ihr bei Eurem Projekt in der Eckertstraße geschlüpft?
Anna Weber: Wir haben als Bauträger alles aus einer Hand gemacht.
Peter Tschada: Wir haben uns als Architekt-*innen grundsätzlich immer als treuhänderische Verwalter des Vermögens unserer Kund-*innen gesehen. Diese fragen immer zuerst nach den Kosten und wir werden dann auf die erste Zahl, die wir auf eine Skizze geschrieben haben, festgenagelt. Das Kostencontrolling ist bei uns also ein Standardwerkzeug. Für uns macht es kaum einen Unterschied, ob wir für die öffentliche Hand oder für Privatleute bauen. Es geht immer um eine Hülle mit einer bestimmten Raumnutzung, die nur einen bestimmten Preis haben darf. Dabei haben wir eigentlich immer diese Generalistenrolle für unsere Kund-*innen übernommen: Wir haben neben der Planung zum Beispiel auch Kaufverträge mitverhandelt und in einzelnen Fällen auch individuelle Finanzplanungen erarbeitet und diese mit den Banken verhandelt. Architekt-*innen haften ja seit ein paar Jahren ohnehin von Anfang an gesamtschuldnerisch für ein Projekt. Deshalb war es für uns kein großer Schritt, selbst als Bauträger aufzutreten.
ALN: Ihr agiert im Grunde bereits seit zwanzig Jahren als Planer, Bauherr und Bauträger in Personal-union. Wie hat sich die Ökonomie des Bauens in den letzten Jahren verändert?
PT: Wir haben dieses Grundstück in der Nähe des Frankfurter Tors damals relativ günstig ersteigert und die gesamte Planung mit den Einnahmen aus früheren Bauvorhaben vorfinanziert. Die Projektentwicklung wollten wir eigentlich zuerst mit einer Bank finanzieren, aber der war unser Projekt viel zu klein. Also sind wir selbst in die Vermarktung gegangen und haben die Einheiten als Eigentumswohnungen angeboten. Mit den laufend eingehenden Raten der Käufer-*innen konnten wir dann bauen. Das Problem war nur, dass die Konjunktur anfing zu steigen und die Baukosten innerhalb eines halben Jahres dermaßen angezogen sind, dass wir die Verkaufspreise erhöhen mussten. Manche Eigentümer-*innen mussten wir ein Jahr lang warten lassen, bis es möglich war, beim Notar alle Verträge gleichzeitig zu unterschreiben. Nach zwei Jahren Planungs- und Bauzeit mit dem Budget auszukommen oder geeignete Firmen für die Ausführung zu finden, war ziemlich schwierig. Die Baukostensteigerung hat eigentlich das ganze Budget aufgefressen.
ALN: Könnt Ihr die Kosten konkretisieren? Wie hoch war der Anteil des Grundstücks an den Gesamtkosten?
AW: Als wir 2014 das Grundstück erworben haben, lag der Bodenrichtwert bei 550 Euro pro Quadratmeter, Anfang 2020 war er bereits auf 5.000 Euro pro Quadratmeter gestiegen. Die Grund-stückskosten haben bei Baubeginn den kleinsten Teil ausgemacht. Wir haben 1.685 Quadratmeter Nutzfläche, kurz NUF, generiert, das entspricht Grundstückskosten von circa 210 Euro pro Quadrat-meter NUF. Bei den Kostengruppen 300 und 400 kommen wir auf etwa 1.700 € brutto pro Quadrat-meter NUF, d. h. 1.430 Euro netto pro Quadratmeter NUF. Wir waren recht stolz, dass wir es zu solch moderaten Kosten hinbekommen haben. Dafür mussten wir sehr viel Zeit in die Detailplanung investieren.
VvB: Die eigentliche Frage ist weniger, wie billig man etwas baut, sondern wie man einen Wohnungsbau kostengünstig hinbekommt, ohne dabei auf hohe Detailqualität zu verzichten. Billig zu bauen ist möglich, wenn man die Produkte der Bauindustrie verwendet.
PT: Wir gehen das Problem planerisch an: Erst auf der Basis einer sorgfältigen Detailplanung kann man günstig bauen. Wenn man die von der Bau-industrie angebotenen Standarddetails genau durch-rechnet, sind sie oft überhaupt nicht günstig, man denke nur an die vielen Eindichtungsebenen einer Fassade. Jede Schicht kostet Geld. Für uns bestand die größte Sicherheit darin, alle Details so zu vereinfachen und Überflüssiges wegzulassen, dass die Kosten kalkulierbar bleiben. So sind die Betonplatten für die Balkone beispielsweise aus einem Stück gegossen und kommen mit allem, was notwendig ist, vorfabriziert auf die Baustelle: Die Entwässerungsrinne ist bereits integriert, durch die Ausführung in WU-Beton, konnten wir auf eine Beschichtung verzichten, das Element ist schwellenfrei zur Wohnfläche angebracht, ohne komplizierte Anschlussdetails. Hier sind zig Elemente in einem einzigen vereint.
VvB: Diese Arbeitsweise stellt viele Fragen an unseren Beruf. Kann man als Architekt*in bei den geltenden Honoraren eigentlich noch eine tiefe Durchdringung der Details leisten? Ist das überhaupt wirtschaftlich? Und kann man für die bauliche Konstruktion, die Details und die Einhaltung der Kosten haften? Das ist schließlich der Grund, warum Architekt-*innen bei größeren Projekten – übrigens insbesondere auch im Auftrag öffentlicher Wohnungsbaugesellschaften – die Ausführungsplanung gar nicht mehr übernehmen, sondern lediglich Leitdetails innerhalb der Leistungsphase 5 planen. Oder sie werden überhaupt nur noch bis zur Leistungsphase 3 beauftragt und erstellen Leitdetails im Rahmen einer besonderen Leistung.
PT: Das ist eine Entwicklung, der wir sehr kritisch gegenüberstehen. Wir haben bei unseren Projekten vom Entwurf bis zur Bauleitung immer alles im eigenen Büro gemacht, um die Kosten und die Qualität im Griff zu haben. Bei der Haftungsfrage sehen wir eigentlich weniger ein Problem. Normgerecht zu bauen ist extrem teuer geworden und haftungstechnisch dennoch schwierig. Hersteller verlangen, dass man die ganze Serie eines Produktes verwendet und schließen die Haftung aus, wenn man einmal davon abweicht. Wenn wir uns aber zutrauen, fehlerfrei zu planen, und das müssen wir sowieso, dann können wir es uns auch wieder leisten, gegen ein normiertes Standarddenken zu bauen. Normen spiegeln ja nur den etablierten Stand der Technik wider, das sind meistens 20 oder 30 Jahre alte Erkenntnisstände. Wir müssen aber auf einem heutigen Stand der Technik und Möglichkeiten bauen, wenn wir neue Dinge erproben wollen. Normen sollten also niemanden abschrecken. Wenn man sorgfältig arbeitet, kann eigentlich nicht so viel passieren.
ALN: Könnt Ihr diesen Ansatz anhand eines Details verdeutlichen?
PT: Das kann man anhand der Fassade gut nachvollziehen. Wir wollten, wie Tim und Verena in Lichtenberg auch, unbedingt ohne Wärmedämmverbundsystem auskommen. Wir haben versucht, eine neue Lösung zu entwickeln, die man mit einfachen Mitteln umsetzen kann: vor die gemauerten Wände wurde einfach Wärmedämmung gestapelt und diese mit Dübeln fixiert, ohne zu kleben. Darauf kam eine Unterkonstruktion aus Holzlatten als Träger für eine textile Fassade als Witterungsschutz. Die Unterspannbahn gab es nur in schwarz. Die Fassade hätte sich im Sommer also stark aufgeheizt. Deshalb haben wir in vier Zentimeter Abstand davor als Sonnenschutz ein Netz vorgespannt, dasselbe Material haben wir auch als Sichtschutz vor den Fenstern eingesetzt. Dieses Schattiernetz war sehr günstig und wurde von unserem eigenen Team und zwei Fassadenkletterern montiert. Für das komplette Schattiernetz kamen wir auf einen Betrag von nur 6.000 Euro Materialkosten.
ALN: Das heißt, Ihr habt auch selbst auf der Baustelle gearbeitet?
PT: Ja, manche Dinge wie die Fassadenbespannung haben wir innerhalb von zweieinhalb Tagen als Bauträger selbst erledigt. Als Architekten haben wir uns natürlich die Ausschreibung erspart, aber wir hätten für diese Spezialausführung wahrscheinlich auch keine externe Firma gefunden.
ALN: Wir hatten vorhin bei der Paul-Zobel-Straße über die Bedeutung der Struktur im Sinne des Erd-geschosses und der gleichwertigen Grundrisse gesprochen. Wie seid Ihr bei Eurem Projekt in dem viel urbaneren Kontext strukturell vorgegangen?
PT: Wir haben im Erdgeschoss zur Straße hin einen Gewerberaum und hinten an der Grundstücksgrenze eine Atelierwohnung geplant, dazwischen ist das Haus aufgeständert, weil diese Räume ohnehin schwierig zu vermarkten gewesen wären. Jetzt können die Autos dort unten parken und später vielleicht sinnvollere Nutzungen untergebracht werden. Und der gesamte Blockinnenbereich wird gut durchlüftet.
Ansonsten ist das Haus als Skelettbau kon-struiert, so dass der Grundriss vollkommen frei bespielbar ist, auch in Zukunft. Die Achsen sind fünf Meter breit. Die Bewohner-*innen konnten aussuchen, ob sie eine, zwei, drei, vier oder fünf Achsen kaufen möchten. Es war alles möglich, von klassischen kleinteiligen Zimmern über offene und flexible Grundrisse mit Schiebewänden bis hin zu leeren, frei bespielbaren Grundrissen. Achsen können auch wieder zugemacht und Türen herausgenommen werden, wenn beispielsweise die Kinder aus dem Haus sind. Dann könnte man Räume separat vermieten. Erschlossen werden die Wohnungen über ein außen liegendes Treppenhaus, was für die Nutzung des Hauses viel schöner ist, weil der Raum wie ein erweiterter Balkon genutzt werden kann. Dazu gibt es die Laubengänge, von denen aus man direkt in die Wohneinheiten gelangt. Durch die heutige Dichtheit der Häuser kann man auf den Windfang verzichten.
ALN: Wie kam es zu dem unkonventionellen Gebäude-grundriss mit den beiden dicht gesetzten Baukörpern?
PT: Das Grundstück galt als unbebaubar, wobei wir nie genau verstanden weshalb. Es ist umgeben von Platten- und den Zuckerbäckerbauten der zweiten Reihe der Karl-Marx-Allee. Es hieß, die benachbarten Plattenbauten stünden falsch. Wir hatten einen einfachen Riegel entworfen, der sich quer zur Straße stellt. Das Stadtplanungsamt machte uns jedoch zur Auflage, eine neue Brandwand zu errichten, damit der Blockrand später geschlossen werden kann. So sind die gestapelten Boxen an der Grundstücksgrenze entstanden, die nur knapp drei Meter breit, aber bis zu 4 Meter hoch und 14 Meter lang sind. Vorne und hinten sind sie vollständig verglast und trotz ihrer Tiefe hell und großzügig. Von diesen Wohnboxen hätten wir Hunderte verkaufen können, die Nachfrage war enorm.
ALN: In unserem bisherigen Gesprächsverlauf hat sich abgezeichnet, wie sich die Arbeitsbereiche der Architekt-*innen heute zunehmend erweitern. Man kann das nun so interpretieren, dass die Verantwortung immer größer wird, der finanzielle Ausgleich aber ausbleibt. Oder aber man sieht darin auch eine Gelegenheit, um die Kontrolle über die architektonische Qualität zu behalten. Eigene Projekte zu initiieren, für sich selbst zu bauen und dabei zu experimentieren können sich allerdings nicht alle leisten. Wie lassen sich diese wenigen Einzelunternehmungen auf einen größeren Maßstab übertragen? Marc, wie war das bei Eurem Projekt, dem sogenannten Wohnregal in Moabit?
Marc Frohn: Ich hatte lange Zeit das Gefühl, dass wir als junges Architekturbüro nicht die Möglichkeit hatten, architektonische Antworten auf die Wohnungsfrage zu geben. Weder wurden wir gefragt noch hatten wir die geforderten Referenzen vorzuweisen. Wir mussten den Einstieg also irgendwie anders finden. Bei mir kam die Idee auf, nicht nur als Planer und Architekt aufzutreten, sondern auch als Entwickler. Dazu musste ich ein Grundstück finden. Über den offiziellen Markt zu gehen, erschien mir zwecklos, stattdessen bin ich drei Jahre lang an den Wochenenden mit dem Fahrrad entlang des S-Bahnringes gefahren und habe versucht, leerstehende Grundstücke und deren Eigen-tümer-*innen über die Ämter ausfindig zu machen. Denen habe ich dann Briefe geschrieben – in der Summe waren es mehr als 300. Letztendlich konnte ich das Grundstück in Moabit von einer Erbengemeinschaft kaufen. Das war aber nur möglich, weil ich inzwischen eine Professur hatte und durch die Verbeamtung der Bank gegenüber genügend Sicherheiten für einen entsprechenden Kredit vorweisen konnte. Als freischaffender Architekt wäre das nicht möglich gewesen. Hinzu kommt, dass der Wert des Grundstücks, ähnlich wie bei Anna und Peter, zwischen dem Zeitpunkt des Kaufs und dem Beginn der Realisierung drastisch gestiegen ist. Das Projekt konnte so zu über 90 Prozent kreditfinanziert werden. Zum Glück hat die Bank damals keine Fragen zur Bauweise gestellt, die einfach als Massivbau deklariert war.
ALN: Du hast bei dem Projekt mit Industriebauelementen experimentiert. Wäre die Finanzierung schwieriger geworden, wenn die Bank davon gewusst hätte?
MF: Das Problem war weniger die Bauweise als die Erwartungen, wie ein Wohnhaus auszusehen hat. Im Prinzip haben wir sechs Fertigteilstrukturen aufeinandergestapelt, die man normalerweise für Industriehallen verwendet. Dadurch konnten wir die Grundrisse sehr frei gestalten. Und mit dieser Konstruktionsweise hatten wir auch ein sehr gutes Verhältnis von Wohnfläche zur BGF. Bei einem guten Wohnbau liegt dieses Verhältnis bei einem Wert von 0,75, wir kamen sogar auf 0,8. Das heißt, unter technischen Gesichtspunkten gab es nichts auszusetzen. Interessant wurde es, als die Bank begann, in regelmäßigen Abständen einen Gutachter auf die Baustelle zu schicken, der die Finanzierungschargen freigeben muss. Am Anfang waren die Abnahmen unproblematisch, das Haus befand sich eben im Rohbau und sah dementsprechend aus. Als es bei den späteren Besuchen aber immer noch wie ein Rohbau aussah, wurde ich zur Bank zitiert und wurde von da an von einem gesonderten Team der Bank „unterstützend begleitet“. Mir wurde dabei klar, dass an einem bestimmten Finanzierungsrahmen immer auch eine bestimmte gestalterische Vorstellung hängt, wie man wohnen darf und muss. Und vor allem, dass man im Prinzip von Leuten abhängig ist, die ansonsten meist klassische Berliner Einfamilienhausprojekte begutachten und dieses gesellschaftliche Bild verinnerlicht haben.
ALN: In welchem Kostenrahmen bewegen wir uns beim Wohnregal?
MF: Wir kamen auf 1.500 Euro netto pro Quadrat-meter für die Kostengruppen 300 und 400 sowie einen großen Teil der 700er-Kosten. Die Architektenhonorare fielen dabei nicht gerade großzügig aus. Wenn man in so einer Bauweise denkt und damit einen Kommentar zum Wohnungsbau formulieren möchte, investiert man planerisch unglaublich viel in unbezahlte Leistungen. Mit unserem Ansatz, vorfabrizierte Elemente zu nutzen, mussten wir zunächst eine viel größere Planungsleistung erbringen und viel mehr systemische Fragen lösen als bei einem normalen Wohnbauprojekt. Dadurch konnten wir aber auch ein Modell entwickeln, das in ähnlicher Form an anderen Orten angewendet werden kann. Und unser Plan war es auch, damit an verschiedene Wohnungsbaugesellschaften heranzutreten, was wir auch gemacht haben. Wir haben alle kontaktiert.
ALN: Vor dem Hintergrund der Wohnungskrise und dem Kosten- und Zeitdruck müssten sie Euch doch die Bürotür eingerannt haben oder nicht?
MF: Es gab einige, die unseren Ideen sehr offen gegenüberstanden. Doch sind wir auf der Ebene der Vergabe auf eine für viele von ihnen schier unüberwindbare Hürde gestoßen. Für Wohnungsbaugesellschaften scheint es äußerst schwierig, unkonventionelle Projekte umzusetzen, da sie bestimmte Rahmenverträge abgeschlossen haben und eigentlich nur mit bestimmten Firmen arbeiten dürfen. Bei der Ausschreibung hat man also nur einen begrenzten Bieterkreis. Die Ausführung eines Bausystems, wie wir es entwickelt haben, ist aber wiederum an gewisse spezialisierte Firmen gebunden. Ich muss mir im Grunde überlegen, wie man mit dieser Vergabethematik umgehen kann und inwieweit es innerhalb dieses Rahmens möglich ist, Alternativen anzubieten.
TH: Sowohl beim Wohnregal als auch in der Eckertstraße habt Ihr Details vereinfacht oder weggelassen und Euch überlegt, was für die Konstruktion wirklich notwendig ist. Das ist quasi ein selbstdefinierter Stand der Technik. Das kann man mit öffentlichen Auftragnehmern überhaupt nicht umsetzen. Es ist auch total gegenläufig zu der Entwicklung des Bausektors, der immer stärker auf die Zertifizierung Dritter setzt. Aber wen sichert das wirklich ab? Die Zukunft eines Produkts? Oder die Bauindustrie?
VvB: Es wird in der Diskussion leider viel zu häufig vergessen, dass es bei Normen auch um kulturelle Fragen geht. Und diese muss man mit den baulich-konstruktiven Fragen, den Regelwerken und den Kosten abgleichen. Nehmen wir unser Baugruppenprojekt R50 in Kreuzberg, das wir mit ifau und Jesko Fezer gemeinsam geplant haben. Die umlaufenden Balkone haben nicht nur die Aufgabe, den einzelnen Wohnungen individuellen Freiraum hinzuzufügen. Sie sind vielmehr eine Art Gemeinschaftsraum, der deswegen so gut funktioniert, weil die Wohnungen sich quasi schwellenlos in den Außenraum erweitern können. Das ist für uns ein kultureller Wert, der immer an erster Stelle steht.
ALN: Modellhafte Projekte haben die Augabe, architektonische Vorstellungen zu verändern, indem sie zeigen, mit welchen technischen und ökonomischen Mitteln man welche kulturellen Ziele erreichen kann. Manchmal ist es etwas Subtiles wie ein schwellenloser Übergang nach außen, manchmal eben etwas in einem größeren Maßstab. Das lässt sich am Folgeprojekt zum Wohnregal sehr gut diskutieren, das ja darauf angelegt ist, skaliert zu werden. Marc, nachdem die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften aus vergabetechnischen Gründen das von Euch entwickelte Fertigbausystem bisher noch nicht anwenden konnten, realisiert Ihr zurzeit damit ein großes Vorhaben für einen privaten Bauträger im Premiumsegment. Inwiefern habt Ihr Euer Konzept dafür weiterentwickelt?
MF: Das neue Projekt befindet sich in Marzahn-Hellersdorf, in unmittelbarer Nachbarschaft zu standardisierten Plattenbauten aus den 1970er- und 80er-Jahren. Wir werden hier sozusagen mit der eigenen Vergangenheit der Fertigteilbauweise mit allen daran haftenden Assoziationen konfrontiert. Damit geht die Frage einher, mit welchen Ambitionen man heute an diese Art zu bauen herangeht, was man von ihr lernen kann und will, und inwiefern man sich davon abgrenzt. Wie man beispielweise mit der Rauheit und Härte umgeht, die diese Bauweise in der allgemeinen Wahrnehmung hat. Im Prinzip arbeiten wir mit demselben System wie beim Wohnregal, aber mit einer anderen Erschließungssituation: Es gibt einen vorgehängten Laubengang und Freisitze. Wir experimentieren in Hellersdorf und testen die Flexibilität unseres Systems, denn wir haben hier einen ganz anderen Maßstab zu bewältigen, wir planen circa 130 Wohneinheiten.
ALN: Wenn man den Entwurf mit den benachbarten Plattenbauten vergleicht, stellt man einen enormen Qualitätssprung fest, den Ihr mit der Außenerschließung und den zugeordneten Freiräumen schafft, obwohl Ihr Euch im Prinzip in der Tradition der Fertigteilbauweise bewegt. Es ist eine verpasste Chance, dass die öffentlichen Bauträger am Vergaberecht scheitern und diese Innovationen nicht mit vorantreiben können und es dem privaten Wohnungsmarkt überlassen, das Konzept zu verwirklichen. Welchen Ansatz verfolgt Ihr hinsichtlich der Frage der Ökonomie, damit möglichst viele Normalverdienende sich eine Wohnung dort leisten können?
MF: Da wir als Architekten hier keinen Zugriff auf die Vermarktung und die Preisgestaltung haben, haben wir sehr viel Arbeit in die Grundrissentwicklung gesteckt und mehr als 20 verschiedene Typen entwickelt, damit sich hier eine möglichst große Bandbreite von Lebensmodellen abbilden kann. Die ökonomische Prämisse lag jedoch vor allem in dem Ansatz, sehr gut geschnittene Grundrisse zu entwerfen und dadurch effiziente Wohnungsgrößen anbieten zu können. Wir haben also versucht, die Frage der Leistbarkeit architektonisch zu formulieren. Der größte Anteil des Wohnungsangebots liegt im kleinen bis mittleren Segment zwischen 40 und 80 Quadratmetern, es gibt einige größere Maisonette-Typen, die über 110 Quadratmeter verfügen. Alle Wohneinheiten sind durchgesteckt und besitzen zugeordnete Freiräume, so dass die zukünftigen Bewohner-*innen die Ausrichtung der Funktionen und damit die Frage von Öffentlichkeit und Privatheit flexibel festlegen können.
ALN: Dieses Gespräch fokussiert auf die Ökonomie des Bauens in Berlin, die, wie Ihr eindrücklich beschrieben habt, immer stärker von der Bodenfrage abhängt. Damit sprecht Ihr aber auch ein Dilemma an: Einerseits profitiert Ihr von den Marktmechanismen, wenn Ihr selbst als Entwickler auftretet, andererseits müsst Ihr im Sinne der Allgemeinheit gegen sie arbeiten. Um aus dieser ökonomischen Spirale herauszukommen, braucht es andere Modelle wie die sich in Gründung befindliche Stadtbodenstiftung als zivilgesellschaftliche Initiative oder der Bodenfonds von Seiten des Senats. Es gibt nach Jahrzehnten endlich ein Umdenken, aber vielleicht ist es schon längst zu spät, denn ein Großteil der Flächen, die sich einmal im öffentlichen Besitz befanden, ist bereits privatiert. Das haben wir in der Ausstellung 1989–2019: Politik des Raums im Neuen Berlin und der dazugehörigen Ausgabe von ARCH+ aufgezeigt.
VvB: Das ist ein zentrales Problem. Wir müssen auf der systemischen Ebene an der Bodenfrage ansetzen, weil die heutigen Grundstückspreise keine Experimente mehr zulassen. Für mich besteht die Lösung aus einer Kombination aus Erbbaurecht, um Grundstücke aus der Vermarktung und damit aus spekulativen, profitorientierten Zwängen herauszulösen, und dem persönlichen Kontakt zwischen Architekt-*innen und Bauherrschaft, zum Beispiel Genossenschaften. Es ist eine positive Entwicklung, dass die Stadt verstärkt Modellprojekte fördert, Konzeptverfahren ausschreibt und zunehmend Erbbaurechte vergibt. Dadurch werden Grundstücke aus der Vermarktungslogik herausgenommen und für Baugemeinschaften überhaupt erst zugänglich. Die Frage ist dann, wie man solche Modelle verallgemeinern und auf andere Bedingungen übertragen kann. Dabei müssen wir auch unsere Rolle als Architekt-*innen hinterfragen und weiterentwickeln. Wir können uns in Partizipationsprozesse einbringen und haben Einblick in diverse Lebensentwürfe gewonnen. Wir müssen aber auch damit umgehen können, für anonyme Nutzer-*innen zu planen, wenn wir beispielsweise für eine Wohnungsbaugesellschaft arbeiten. Daraus ergibt sich eine Spannung zwischen einem autonomen Architekturverständnis und der Notwendigkeit, sich in die anonymen Nutzer-*innen hineinzuversetzen. Für uns wäre das jetzt der logische nächste Schritt: Wie können wir unsere Erkenntnisse und Erfahrungen mit öffentlichen Auftraggebern, Baugruppen und anderen privaten Bauherren nutzen, um architektonische Qualitäten zu schaffen, aber auch zukünftige Formen des Wohnens und Arbeitens zu ermöglichen?
ALN: Provokant gefragt: Ist die Zeit der kleinteiligen, selbstinitiierten Projekte vorbei? Sind jetzt wieder die großen Player gefragt? Und wenn ja, ist das erstrebenswert?
PT: Das hängt sicherlich damit zusammen, dass, wie Du beschrieben hast, in den vergangenen Jahren die letzten Grundstücke, auf denen man noch experimentieren konnte, privatisiert worden sind. Das ist jetzt vorbei. Die Preise sind heute so hoch, dass wir alle es uns gar nicht mehr leisten können, alternative Modelle zu erproben. Wir sind in einer Situation, in der wir zusammen mit den öffentlichen Auftraggebern eine Lösung finden müssen, um weiterhin kleinteilige Experimente zu ermöglichen. Denn die großen Player sind teilweise verkrustet und so überlastet, dass sie keinen neuen Weg beschreiten können oder wollen. Wir müssen dem Land Berlin – die BIM regiert eigentlich als eine Art Monopolist über den noch verfügbaren Boden – unter die Arme greifen und auf der administrativen Ebene vermitteln, was architektonisch auf den Grundstücken möglich ist. Wir Architekt--*innen müssen wieder verstärkt systemischen und strukturellen Einfluss auf die Stadtpolitik nehmen.
AW: Ich halte die aktuelle Entwicklung für sehr zwiespältig. Einerseits ist es gut, dass die öffentliche Hand gegen die Bodenspekulation vorgeht und die Grundsstücksreserven endlich wertschätzt. Andererseits sollten wir darauf drängen, dass die Projektentwicklungen nicht ausschließlich bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften landen, wenn wir weiterhin einen architektonischen Beitrag leisten sollen. Denn die Stadt Berlin braucht geradezu diejenigen Architekt---*innen, die sich für Qualität, Vielfalt und Weiterentwicklung im Wohnungsbau einsetzen, als unabhängige, experimentier-freudige Player. Wir sind bereit, unsere Verantwortungsbereiche zu erweitern.
Mitarbeit: Sascha Kellermann, Nora Dünser
Der Artikel ist erschienen in ARCH+ 242: Berlin Praxis. Von Handlungsoptionen und politischer Verantwortung. Berlin, Januar 2021, ISBN 978-3-931435-63-9. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von ARCH+ Verlag GmbH.
Anh-Linh Ngo: Verena, Ihr habt 2019 für die kommunale Wohnungsbaugesellschaft HOWOGE in der Paul-Zobel-Straße in Lichtenberg Euer bislang größtes Wohnbauprojekt fertiggestellt. Es macht Hoffnung, dass der öffentliche Wohnungsbau wieder der Bereich werden kann, in dem im großen Maßstab neue Modelle erprobt werden, so wie man es aus dem Berlin der Weimarer Republik und der Nachkriegsjahre kennt. Jedoch haben sich die Verwaltungsreformen der Nachwendezeit, wie wir es in unserer Ausstellung 1989–2019: Politik des Raums im Neuen Berlin herausgearbeitet haben, verheerend auf das Denken der öffentlichen Hand ausgewirkt. Die damit verbundene Einführung unternehmerischer Elemente in der Verwaltung hat zu einer Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche geführt. Statt öffentliche Daseinsvorsorge trat eine vordergründige Dienstleistungsmentalität auf den Plan. Welche Erfahrungen habt Ihr vor diesem Hintergrund bei Eurer Zusammenarbeit mit der HOWOGE gemacht?
Verena von Beckerath: Die von Dir beschriebene Entwicklung hat in der Tat dazu geführt, dass die HOWOGE als eine der sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften einerseits den Auftrag hat, geförderten Wohnungsbau bereitzustellen. Andererseits ist sie aber auch angehalten, bis zu fünf Prozent Gewinn zu erwirtschaften. Das heißt, wir haben es mit einer Bauherrin zu tun, die zum einen der Stadt gehört und in ihrem Auftrag handelt und zum anderen auch unternehmerisch agiert. Da über die letzten Jahrzehnte kaum in den Neubau von Wohnungen investiert wurde, war die HOWOGE hauptsächlich damit beschäftigt, ihre relativ großen Wohnungsbestände im Stadtteil Lichtenberg zu verwalten. Im Zuge der Wohnungskrise und der neuen politischen Weichenstellungen wurde sie auf einmal damit konfrontiert, selbst neu bauen zu müssen. Dafür hatte sie zunächst keine Strategie, da die entsprechende Erfahrung fehlte. Auf diese Situation reagierte sie, wie ich finde, recht klug, indem sie eine neue Abteilung gründete, die für die Entwicklung und Realisierung von Wohnungsneubau verantwortlich ist. Zusätzlich wurden Expert--*innen aus der freien Wirtschaft geholt, die sich proaktiv für den Aufbau dieser Abteilung einsetzten: Man ist an die Universitäten gegangen, hat sich dort im Rahmen von Gastkritiken eingebracht, hat Studentenwettbewerbe ausgeschrieben, und den Kontakt zu Architekt-*innen gesucht. Darüber hat sich auch ein Gespräch mit uns entwickelt, und wir wurden eingeladen, Machbarkeitsstudien durchzuführen. Es wurde beispielsweise überlegt, wie Grundstücke entwickelt werden können, für die es keinen Bebauungsplan gibt oder die schwierig zu bebauen sind. Mit diesen Studien ist die HOWOGE dann an den Bezirk herangetreten, um auszuhandeln, was zum Beispiel im Inneren eines Plattenbaublocks möglich ist. So fing das in unserem Fall mit dem Projekt in Lichtenberg an.
ALN: Das Problem der mangelden Innovation bei öffentlichen Bauten liegt auch daran, dass die Vergabe meist an Referenzen gekoppelt ist, die viele jüngere oder experimentelle Büros gar nicht vorweisen können.
VvB: Ja, das ist in der Tat ein Problem. Als nach der Machbarkeitsstudie das Projekt für die Paul-Zobel-Straße 10/10A ausgeschrieben wurde, haben wir uns mit einem Portfolio aus drei Baugruppenprojekten beworben, von denen nur das IBeB am Blumengroßmarkt in Berlin-Kreuzberg größenmäßig als Referenz in Frage kam. Hinzu kam, dass man sich als Generalplaner bewerben musste, was wir noch nie gemacht hatten. Dafür stellten wir ein Team mit Bauleitungs-, Haustechnik- und Statikbüro sowie weiteren Fachleuten zusammen. Für junge Architekt-*innen ist das eine große Hürde, ohne ein strukturiertes Büro hätten wir diese Verantwortung nicht übernehmen können.
Es folgte dann ein mehrstufiges Bieterverfahren, aus dem unser Entwurf als Gewinner hervorging. Nach einem dreimonatigen Prozess wurde der Generalplanervertrag aufgesetzt und wir begannen relativ zügig, gemeinsam mit der HOWOGE an dem Projekt zu arbeiten. Dabei lag ein Großteil der Verantwortung auf unseren Schultern. Bereits in der Ausschreibung war ein Kostenrahmen fixiert, zu dessen Einhaltung wir uns vertraglich verpflichteten. Für uns war das mit Risiken verbunden, wir waren zu diesem Zeitpunkt eine GbR und hafteten selbstschuldnerisch. Das ist ein Aspekt, den man nicht vergessen darf, weil er zur Kon-struktion des Verhältnisses zwischen Architekturbüro und Auftraggeberin dazugehört.
ALN: Welcher Kostenrahmen galt bei dem Projekt?
VvB: Wir bewegen uns bei circa 1.400 Euro netto pro Quadratmeter Nutzfläche für die Kostengruppen 300 und 400, also die Kosten für das Bauwerk und die Haustechnik, ohne Grundstück und Freiraum. Zum Vergleich: Beim IBeB, das wir 2016–19 gemeinsam mit dem Büro ifau realisiert haben, lagen wir bei 1.900 Euro. Wir waren dafür verantwortlich, dass in Lichtenberg am Ende 30 Prozent der Wohnungen für 6,50 Euro pro Quadrat-meter vermietet werden können. Unter den gegebenen budgetären Bedingungen haben wir uns auf drei Themen konzentriert, die uns für diesen Ort und unter der Voraussetzung, dass es sich um geförderten und kostengünstigen Wohnungsbau handelt, wichtig waren.
ALN: Welche Schwerpunkte waren das?
VvB: Zum einen die Flexibilisierung der Grundrisse. Die Grundrisse der Regelgeschosse rotieren um die innenliegenden Treppenhäuser, und dieses Prinzip haben wir in den Wohnungsgrundrissen fortgesetzt, die um die Bad- und Küchenkerne angeordnet sind. So gelang es uns, Zwei-, Drei, Vier- und Fünf-Zimmer-Wohnungen auf einer Geschossebene zu mischen, wobei wir nicht zwischen freifinanzierten und geförderten Wohnungen unterschieden. Durch den rotierenden Wohnungsgrundriss konnten wir Türen und Wandel-emente so anordnen, dass sich größere Raumzusammenhänge ergaben. Bei geförderten Wohnungen gelten relativ rigorose Quadratmetervorgaben für jede Wohnung, die wir auch eingehalten haben, und die HOWOGE hat unseren Vorschlag für tendenziell offenere Grundrisse akzeptiert.
Der zweite Schwerpunkt war die nachhaltige Konstruktion, bei der wir auf die im kostengünstigen Wohnungsbau üblichen Wärmedämmverbundssysteme verzichteten. Wir haben mit einem Vollwandsystem aus massivem Porenbeton gearbeitet, das ohne zusätzliche Wärmedämmung auskommt. Außen wird nur noch Glattputz aufgetragen, weshalb die Häuser auffällig scharfe Kanten haben. Für die Balkone, die – wie die Wohnungen um den inneren Kern – um das Haus rotieren, haben wir ein Fertigteil entwickelt. Die größeren Wohnungen haben zwei und manchmal sogar drei Balkone, die kleineren einen. Der Entwurf kam mit einem einzigen Fenstertür-Typ aus. Das entspricht unserem generellen Zugang zum kostengünstigen Bauen: Wir arbeiten mit standardisierten Bauteilen und reduzieren die Elemente weitestgehend. Das ist aber auch im Bezug auf die Umgebung interessant. Unsere beiden Neubauten liegen inmitten von zehngeschossigen Plattenbauten in einem großen Hof, der in eine denkmalgeschützte Freianlage aus DDR-Zeiten, eine Kita und unseren Bau unterteilt ist. Uns ging es auch darum, dem historischen Erbe des standardisierten Großwohnungsbaus mit Respekt und im Dialog zu begegnen.
ALN: Die Entscheidung, mitten in einer Großwohnsiedlung nachzuverdichten, hat vielfältige Implikationen. Während Ihr architektonisch respektvoll an die Geschichte des Massenwohnungsbaus anknüpfen könnt, müsst Ihr das problematische städtebauliche Erbe überwinden, was man am Verhältnis der beiden Gebäude zum Kontext gut ablesen kann.
VvB: Wir haben uns aus diesem Grund intensiv mit dem öffentlichen Raum beschäftigt. Das war neben der Flexibilisierung der Wohnungsgrundrisse und der nachhaltigen Konstruktion das dritte Thema, das wir uns gesetzt haben. Die Frage war, wie das Haus auf den Boden kommt, also wie der Kontakt zwischen Erdgeschoss und öffentlichem Raum hergestellt wird. Statt einer abweisenden Sockelzone sollte sich der neu gestaltete Freiraum auch an den Bestand und dessen Bewohner-*innen richten, die es natürlich nicht gut fanden, dass dort neu gebaut wird, weil sie den Blick und die Offenheit des großen Hofes gewohnt waren. Wir haben sehr viel Augenmerk auf die Details gerichtet und zum Beispiel den Gedanken, dass das Erdgeschoss im Wortsinne eine Kontaktzone sein soll, bis in die materielle Beschaffenheit der Erdgeschossfassade verfolgt: Um sicherzustellen, dass sie robust genug ist, besteht sie aus Betonfertigteilen, damit Kinder und Jugendliche keine Angst haben müssen, auch Mal einen Ball dagegenzukicken.
ALN: Das Erdgeschoss bietet unterschiedliche Zugänge und Grade von Öffentlichkeit und Privatheit an, was ungewöhnlich ist für ein Projekt im geförderten Wohnungsbau.
VvB: Wir haben das Erdgeschoss gelegentlich als horizontales Relief bezeichnet, aus dem die Wohntürme emporwachsen. Ein großer Betonträger verbindet die Eingänge der beiden Häuser. Dadurch ergibt sich eine Art Vis-à-vis-Situation, ein gefasster Platz entsteht. Die Häuser verlieren ihren Charakter als Solitäre und werden als räumliches Ensemble lesbar. Teil dieses Reliefs sind auch Gemeinschaftswohnungen mit einzelnen Zimmern, die einen zusätzlichen eigenen Zugang besitzen. Es gibt in diesem Relief also privatere und öffentlichere Bereiche.
Tim Heide: Es war zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht klar, wer ins Erdgeschoss einziehen würde. Wir wussten nur, dass die Wohnungsbaugesellschaften mit sozialen Trägern, etwa der Obdach-losenhilfe oder dem Pflegedienst, zusammen-arbeiten. Hier sollen also Menschen wohnen, die sich das nicht ausgesucht haben und sich in prekären Lebenssitutationen befinden. Uns war es daher sehr wichtig, dass die Architektur nicht bevormundend ist, sondern die Bewohner-*innen in ihrer Würde bestärkt, indem sie ihnen Optionen anbietet. Wir haben daher beispielsweise eine doppelte Erschließung vorgeschlagen: Einerseits erfolgt sie durch den gemeinschaftlichen Eingangsbereich, andererseits haben die wohnungslosen Menschen, die hier schließlich eingezogen sind, auf der Rückseite der Gebäude einen individuellen Zugang über einzelne Plateaus und angehobene Vorgärten. Im Erdgeschoss gibt es neben den Hauseingängen außerdem große Fahrradräume, die so angelegt sind, dass man sie potentiell auch als Gemeinschaftsräume nutzen kann. Sie öffnen sich mit großen Falttüren zur Fläche zwischen den beiden Gebäuden hin, wir haben also versucht, eine Art Hof innerhalb des großen Hofs zu schaffen.
ALN: Über architektonische Setzungen habt Ihr innerhalb der strengen finanziellen und programmatischen Vorgaben des kommunalen Bauträgers Mehrwerte geschaffen, die über das Übliche hinausgehen. Neben der differenzierten Erdgeschosszone ist meiner Meinung nach das Rotationsprinzip der Grundrisse entscheidend für die Qualität des Projekts. Ihr habt den frei finanzierten und den sozial geförderten Wohnungsbau gleich behandelt und beide auf denselben Standard gehoben. Gibt es in den Häusern überhaupt eine Trennung in die beiden Bereiche?
TH: Theoretisch sind alle Wohnungen förderfähig. Es war der HOWOGE überlassen, zu entscheiden, welche Wohnungen sozial gefördert werden und welche nicht. Wir haben die Regularien einfach als Instrument genutzt, um innerhalb des Systems nach den entsprechenden Qualitäten zu suchen und gleichzeitig sehr ökonomisch vorzugehen.
ALN: Man könnte beide Häuser also auch zu 100 Prozent in geförderten Wohnungsbau umwandeln?
TH: Ja, das wäre möglich. Wir haben uns für diesen Ansatz auch entschieden, weil wir gar nicht festlegen wollten, wer in welche Wohnung einziehen soll. Wir haben uns stattdessen auf gleichwertige architektonische Qualitäten konzentriert. Die HOWOGE sah für sich darin wiederum eine gewisse Flexibilität in der Handhabe der Finanzierung und der Vermietung.
ALN: Mit einem Generalplanervertrag bürden sich Architekt-*innen zusätzliche Verantwortung auf. Ähnliches gilt für den Fall, dass man als Planende zugleich die Rolle eines Entwicklers, Bauträgers oder Bauherrn übernimmt. Als reine Entwurfsarchitekt-*innen kommt man heute allem Anschein nach nicht mehr weit, wenn man die Kontrolle über gewisse architektonische Qualitäten behalten will. Anna und Peter, in welche zusätzliche Rollen seid Ihr bei Eurem Projekt in der Eckertstraße geschlüpft?
Anna Weber: Wir haben als Bauträger alles aus einer Hand gemacht.
Peter Tschada: Wir haben uns als Architekt-*innen grundsätzlich immer als treuhänderische Verwalter des Vermögens unserer Kund-*innen gesehen. Diese fragen immer zuerst nach den Kosten und wir werden dann auf die erste Zahl, die wir auf eine Skizze geschrieben haben, festgenagelt. Das Kostencontrolling ist bei uns also ein Standardwerkzeug. Für uns macht es kaum einen Unterschied, ob wir für die öffentliche Hand oder für Privatleute bauen. Es geht immer um eine Hülle mit einer bestimmten Raumnutzung, die nur einen bestimmten Preis haben darf. Dabei haben wir eigentlich immer diese Generalistenrolle für unsere Kund-*innen übernommen: Wir haben neben der Planung zum Beispiel auch Kaufverträge mitverhandelt und in einzelnen Fällen auch individuelle Finanzplanungen erarbeitet und diese mit den Banken verhandelt. Architekt-*innen haften ja seit ein paar Jahren ohnehin von Anfang an gesamtschuldnerisch für ein Projekt. Deshalb war es für uns kein großer Schritt, selbst als Bauträger aufzutreten.
ALN: Ihr agiert im Grunde bereits seit zwanzig Jahren als Planer, Bauherr und Bauträger in Personal-union. Wie hat sich die Ökonomie des Bauens in den letzten Jahren verändert?
PT: Wir haben dieses Grundstück in der Nähe des Frankfurter Tors damals relativ günstig ersteigert und die gesamte Planung mit den Einnahmen aus früheren Bauvorhaben vorfinanziert. Die Projektentwicklung wollten wir eigentlich zuerst mit einer Bank finanzieren, aber der war unser Projekt viel zu klein. Also sind wir selbst in die Vermarktung gegangen und haben die Einheiten als Eigentumswohnungen angeboten. Mit den laufend eingehenden Raten der Käufer-*innen konnten wir dann bauen. Das Problem war nur, dass die Konjunktur anfing zu steigen und die Baukosten innerhalb eines halben Jahres dermaßen angezogen sind, dass wir die Verkaufspreise erhöhen mussten. Manche Eigentümer-*innen mussten wir ein Jahr lang warten lassen, bis es möglich war, beim Notar alle Verträge gleichzeitig zu unterschreiben. Nach zwei Jahren Planungs- und Bauzeit mit dem Budget auszukommen oder geeignete Firmen für die Ausführung zu finden, war ziemlich schwierig. Die Baukostensteigerung hat eigentlich das ganze Budget aufgefressen.
ALN: Könnt Ihr die Kosten konkretisieren? Wie hoch war der Anteil des Grundstücks an den Gesamtkosten?
AW: Als wir 2014 das Grundstück erworben haben, lag der Bodenrichtwert bei 550 Euro pro Quadratmeter, Anfang 2020 war er bereits auf 5.000 Euro pro Quadratmeter gestiegen. Die Grund-stückskosten haben bei Baubeginn den kleinsten Teil ausgemacht. Wir haben 1.685 Quadratmeter Nutzfläche, kurz NUF, generiert, das entspricht Grundstückskosten von circa 210 Euro pro Quadrat-meter NUF. Bei den Kostengruppen 300 und 400 kommen wir auf etwa 1.700 € brutto pro Quadrat-meter NUF, d. h. 1.430 Euro netto pro Quadratmeter NUF. Wir waren recht stolz, dass wir es zu solch moderaten Kosten hinbekommen haben. Dafür mussten wir sehr viel Zeit in die Detailplanung investieren.
VvB: Die eigentliche Frage ist weniger, wie billig man etwas baut, sondern wie man einen Wohnungsbau kostengünstig hinbekommt, ohne dabei auf hohe Detailqualität zu verzichten. Billig zu bauen ist möglich, wenn man die Produkte der Bauindustrie verwendet.
PT: Wir gehen das Problem planerisch an: Erst auf der Basis einer sorgfältigen Detailplanung kann man günstig bauen. Wenn man die von der Bau-industrie angebotenen Standarddetails genau durch-rechnet, sind sie oft überhaupt nicht günstig, man denke nur an die vielen Eindichtungsebenen einer Fassade. Jede Schicht kostet Geld. Für uns bestand die größte Sicherheit darin, alle Details so zu vereinfachen und Überflüssiges wegzulassen, dass die Kosten kalkulierbar bleiben. So sind die Betonplatten für die Balkone beispielsweise aus einem Stück gegossen und kommen mit allem, was notwendig ist, vorfabriziert auf die Baustelle: Die Entwässerungsrinne ist bereits integriert, durch die Ausführung in WU-Beton, konnten wir auf eine Beschichtung verzichten, das Element ist schwellenfrei zur Wohnfläche angebracht, ohne komplizierte Anschlussdetails. Hier sind zig Elemente in einem einzigen vereint.
VvB: Diese Arbeitsweise stellt viele Fragen an unseren Beruf. Kann man als Architekt*in bei den geltenden Honoraren eigentlich noch eine tiefe Durchdringung der Details leisten? Ist das überhaupt wirtschaftlich? Und kann man für die bauliche Konstruktion, die Details und die Einhaltung der Kosten haften? Das ist schließlich der Grund, warum Architekt-*innen bei größeren Projekten – übrigens insbesondere auch im Auftrag öffentlicher Wohnungsbaugesellschaften – die Ausführungsplanung gar nicht mehr übernehmen, sondern lediglich Leitdetails innerhalb der Leistungsphase 5 planen. Oder sie werden überhaupt nur noch bis zur Leistungsphase 3 beauftragt und erstellen Leitdetails im Rahmen einer besonderen Leistung.
PT: Das ist eine Entwicklung, der wir sehr kritisch gegenüberstehen. Wir haben bei unseren Projekten vom Entwurf bis zur Bauleitung immer alles im eigenen Büro gemacht, um die Kosten und die Qualität im Griff zu haben. Bei der Haftungsfrage sehen wir eigentlich weniger ein Problem. Normgerecht zu bauen ist extrem teuer geworden und haftungstechnisch dennoch schwierig. Hersteller verlangen, dass man die ganze Serie eines Produktes verwendet und schließen die Haftung aus, wenn man einmal davon abweicht. Wenn wir uns aber zutrauen, fehlerfrei zu planen, und das müssen wir sowieso, dann können wir es uns auch wieder leisten, gegen ein normiertes Standarddenken zu bauen. Normen spiegeln ja nur den etablierten Stand der Technik wider, das sind meistens 20 oder 30 Jahre alte Erkenntnisstände. Wir müssen aber auf einem heutigen Stand der Technik und Möglichkeiten bauen, wenn wir neue Dinge erproben wollen. Normen sollten also niemanden abschrecken. Wenn man sorgfältig arbeitet, kann eigentlich nicht so viel passieren.
ALN: Könnt Ihr diesen Ansatz anhand eines Details verdeutlichen?
PT: Das kann man anhand der Fassade gut nachvollziehen. Wir wollten, wie Tim und Verena in Lichtenberg auch, unbedingt ohne Wärmedämmverbundsystem auskommen. Wir haben versucht, eine neue Lösung zu entwickeln, die man mit einfachen Mitteln umsetzen kann: vor die gemauerten Wände wurde einfach Wärmedämmung gestapelt und diese mit Dübeln fixiert, ohne zu kleben. Darauf kam eine Unterkonstruktion aus Holzlatten als Träger für eine textile Fassade als Witterungsschutz. Die Unterspannbahn gab es nur in schwarz. Die Fassade hätte sich im Sommer also stark aufgeheizt. Deshalb haben wir in vier Zentimeter Abstand davor als Sonnenschutz ein Netz vorgespannt, dasselbe Material haben wir auch als Sichtschutz vor den Fenstern eingesetzt. Dieses Schattiernetz war sehr günstig und wurde von unserem eigenen Team und zwei Fassadenkletterern montiert. Für das komplette Schattiernetz kamen wir auf einen Betrag von nur 6.000 Euro Materialkosten.
ALN: Das heißt, Ihr habt auch selbst auf der Baustelle gearbeitet?
PT: Ja, manche Dinge wie die Fassadenbespannung haben wir innerhalb von zweieinhalb Tagen als Bauträger selbst erledigt. Als Architekten haben wir uns natürlich die Ausschreibung erspart, aber wir hätten für diese Spezialausführung wahrscheinlich auch keine externe Firma gefunden.
ALN: Wir hatten vorhin bei der Paul-Zobel-Straße über die Bedeutung der Struktur im Sinne des Erd-geschosses und der gleichwertigen Grundrisse gesprochen. Wie seid Ihr bei Eurem Projekt in dem viel urbaneren Kontext strukturell vorgegangen?
PT: Wir haben im Erdgeschoss zur Straße hin einen Gewerberaum und hinten an der Grundstücksgrenze eine Atelierwohnung geplant, dazwischen ist das Haus aufgeständert, weil diese Räume ohnehin schwierig zu vermarkten gewesen wären. Jetzt können die Autos dort unten parken und später vielleicht sinnvollere Nutzungen untergebracht werden. Und der gesamte Blockinnenbereich wird gut durchlüftet.
Ansonsten ist das Haus als Skelettbau kon-struiert, so dass der Grundriss vollkommen frei bespielbar ist, auch in Zukunft. Die Achsen sind fünf Meter breit. Die Bewohner-*innen konnten aussuchen, ob sie eine, zwei, drei, vier oder fünf Achsen kaufen möchten. Es war alles möglich, von klassischen kleinteiligen Zimmern über offene und flexible Grundrisse mit Schiebewänden bis hin zu leeren, frei bespielbaren Grundrissen. Achsen können auch wieder zugemacht und Türen herausgenommen werden, wenn beispielsweise die Kinder aus dem Haus sind. Dann könnte man Räume separat vermieten. Erschlossen werden die Wohnungen über ein außen liegendes Treppenhaus, was für die Nutzung des Hauses viel schöner ist, weil der Raum wie ein erweiterter Balkon genutzt werden kann. Dazu gibt es die Laubengänge, von denen aus man direkt in die Wohneinheiten gelangt. Durch die heutige Dichtheit der Häuser kann man auf den Windfang verzichten.
ALN: Wie kam es zu dem unkonventionellen Gebäude-grundriss mit den beiden dicht gesetzten Baukörpern?
PT: Das Grundstück galt als unbebaubar, wobei wir nie genau verstanden weshalb. Es ist umgeben von Platten- und den Zuckerbäckerbauten der zweiten Reihe der Karl-Marx-Allee. Es hieß, die benachbarten Plattenbauten stünden falsch. Wir hatten einen einfachen Riegel entworfen, der sich quer zur Straße stellt. Das Stadtplanungsamt machte uns jedoch zur Auflage, eine neue Brandwand zu errichten, damit der Blockrand später geschlossen werden kann. So sind die gestapelten Boxen an der Grundstücksgrenze entstanden, die nur knapp drei Meter breit, aber bis zu 4 Meter hoch und 14 Meter lang sind. Vorne und hinten sind sie vollständig verglast und trotz ihrer Tiefe hell und großzügig. Von diesen Wohnboxen hätten wir Hunderte verkaufen können, die Nachfrage war enorm.
ALN: In unserem bisherigen Gesprächsverlauf hat sich abgezeichnet, wie sich die Arbeitsbereiche der Architekt-*innen heute zunehmend erweitern. Man kann das nun so interpretieren, dass die Verantwortung immer größer wird, der finanzielle Ausgleich aber ausbleibt. Oder aber man sieht darin auch eine Gelegenheit, um die Kontrolle über die architektonische Qualität zu behalten. Eigene Projekte zu initiieren, für sich selbst zu bauen und dabei zu experimentieren können sich allerdings nicht alle leisten. Wie lassen sich diese wenigen Einzelunternehmungen auf einen größeren Maßstab übertragen? Marc, wie war das bei Eurem Projekt, dem sogenannten Wohnregal in Moabit?
Marc Frohn: Ich hatte lange Zeit das Gefühl, dass wir als junges Architekturbüro nicht die Möglichkeit hatten, architektonische Antworten auf die Wohnungsfrage zu geben. Weder wurden wir gefragt noch hatten wir die geforderten Referenzen vorzuweisen. Wir mussten den Einstieg also irgendwie anders finden. Bei mir kam die Idee auf, nicht nur als Planer und Architekt aufzutreten, sondern auch als Entwickler. Dazu musste ich ein Grundstück finden. Über den offiziellen Markt zu gehen, erschien mir zwecklos, stattdessen bin ich drei Jahre lang an den Wochenenden mit dem Fahrrad entlang des S-Bahnringes gefahren und habe versucht, leerstehende Grundstücke und deren Eigen-tümer-*innen über die Ämter ausfindig zu machen. Denen habe ich dann Briefe geschrieben – in der Summe waren es mehr als 300. Letztendlich konnte ich das Grundstück in Moabit von einer Erbengemeinschaft kaufen. Das war aber nur möglich, weil ich inzwischen eine Professur hatte und durch die Verbeamtung der Bank gegenüber genügend Sicherheiten für einen entsprechenden Kredit vorweisen konnte. Als freischaffender Architekt wäre das nicht möglich gewesen. Hinzu kommt, dass der Wert des Grundstücks, ähnlich wie bei Anna und Peter, zwischen dem Zeitpunkt des Kaufs und dem Beginn der Realisierung drastisch gestiegen ist. Das Projekt konnte so zu über 90 Prozent kreditfinanziert werden. Zum Glück hat die Bank damals keine Fragen zur Bauweise gestellt, die einfach als Massivbau deklariert war.
ALN: Du hast bei dem Projekt mit Industriebauelementen experimentiert. Wäre die Finanzierung schwieriger geworden, wenn die Bank davon gewusst hätte?
MF: Das Problem war weniger die Bauweise als die Erwartungen, wie ein Wohnhaus auszusehen hat. Im Prinzip haben wir sechs Fertigteilstrukturen aufeinandergestapelt, die man normalerweise für Industriehallen verwendet. Dadurch konnten wir die Grundrisse sehr frei gestalten. Und mit dieser Konstruktionsweise hatten wir auch ein sehr gutes Verhältnis von Wohnfläche zur BGF. Bei einem guten Wohnbau liegt dieses Verhältnis bei einem Wert von 0,75, wir kamen sogar auf 0,8. Das heißt, unter technischen Gesichtspunkten gab es nichts auszusetzen. Interessant wurde es, als die Bank begann, in regelmäßigen Abständen einen Gutachter auf die Baustelle zu schicken, der die Finanzierungschargen freigeben muss. Am Anfang waren die Abnahmen unproblematisch, das Haus befand sich eben im Rohbau und sah dementsprechend aus. Als es bei den späteren Besuchen aber immer noch wie ein Rohbau aussah, wurde ich zur Bank zitiert und wurde von da an von einem gesonderten Team der Bank „unterstützend begleitet“. Mir wurde dabei klar, dass an einem bestimmten Finanzierungsrahmen immer auch eine bestimmte gestalterische Vorstellung hängt, wie man wohnen darf und muss. Und vor allem, dass man im Prinzip von Leuten abhängig ist, die ansonsten meist klassische Berliner Einfamilienhausprojekte begutachten und dieses gesellschaftliche Bild verinnerlicht haben.
ALN: In welchem Kostenrahmen bewegen wir uns beim Wohnregal?
MF: Wir kamen auf 1.500 Euro netto pro Quadrat-meter für die Kostengruppen 300 und 400 sowie einen großen Teil der 700er-Kosten. Die Architektenhonorare fielen dabei nicht gerade großzügig aus. Wenn man in so einer Bauweise denkt und damit einen Kommentar zum Wohnungsbau formulieren möchte, investiert man planerisch unglaublich viel in unbezahlte Leistungen. Mit unserem Ansatz, vorfabrizierte Elemente zu nutzen, mussten wir zunächst eine viel größere Planungsleistung erbringen und viel mehr systemische Fragen lösen als bei einem normalen Wohnbauprojekt. Dadurch konnten wir aber auch ein Modell entwickeln, das in ähnlicher Form an anderen Orten angewendet werden kann. Und unser Plan war es auch, damit an verschiedene Wohnungsbaugesellschaften heranzutreten, was wir auch gemacht haben. Wir haben alle kontaktiert.
ALN: Vor dem Hintergrund der Wohnungskrise und dem Kosten- und Zeitdruck müssten sie Euch doch die Bürotür eingerannt haben oder nicht?
MF: Es gab einige, die unseren Ideen sehr offen gegenüberstanden. Doch sind wir auf der Ebene der Vergabe auf eine für viele von ihnen schier unüberwindbare Hürde gestoßen. Für Wohnungsbaugesellschaften scheint es äußerst schwierig, unkonventionelle Projekte umzusetzen, da sie bestimmte Rahmenverträge abgeschlossen haben und eigentlich nur mit bestimmten Firmen arbeiten dürfen. Bei der Ausschreibung hat man also nur einen begrenzten Bieterkreis. Die Ausführung eines Bausystems, wie wir es entwickelt haben, ist aber wiederum an gewisse spezialisierte Firmen gebunden. Ich muss mir im Grunde überlegen, wie man mit dieser Vergabethematik umgehen kann und inwieweit es innerhalb dieses Rahmens möglich ist, Alternativen anzubieten.
TH: Sowohl beim Wohnregal als auch in der Eckertstraße habt Ihr Details vereinfacht oder weggelassen und Euch überlegt, was für die Konstruktion wirklich notwendig ist. Das ist quasi ein selbstdefinierter Stand der Technik. Das kann man mit öffentlichen Auftragnehmern überhaupt nicht umsetzen. Es ist auch total gegenläufig zu der Entwicklung des Bausektors, der immer stärker auf die Zertifizierung Dritter setzt. Aber wen sichert das wirklich ab? Die Zukunft eines Produkts? Oder die Bauindustrie?
VvB: Es wird in der Diskussion leider viel zu häufig vergessen, dass es bei Normen auch um kulturelle Fragen geht. Und diese muss man mit den baulich-konstruktiven Fragen, den Regelwerken und den Kosten abgleichen. Nehmen wir unser Baugruppenprojekt R50 in Kreuzberg, das wir mit ifau und Jesko Fezer gemeinsam geplant haben. Die umlaufenden Balkone haben nicht nur die Aufgabe, den einzelnen Wohnungen individuellen Freiraum hinzuzufügen. Sie sind vielmehr eine Art Gemeinschaftsraum, der deswegen so gut funktioniert, weil die Wohnungen sich quasi schwellenlos in den Außenraum erweitern können. Das ist für uns ein kultureller Wert, der immer an erster Stelle steht.
ALN: Modellhafte Projekte haben die Augabe, architektonische Vorstellungen zu verändern, indem sie zeigen, mit welchen technischen und ökonomischen Mitteln man welche kulturellen Ziele erreichen kann. Manchmal ist es etwas Subtiles wie ein schwellenloser Übergang nach außen, manchmal eben etwas in einem größeren Maßstab. Das lässt sich am Folgeprojekt zum Wohnregal sehr gut diskutieren, das ja darauf angelegt ist, skaliert zu werden. Marc, nachdem die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften aus vergabetechnischen Gründen das von Euch entwickelte Fertigbausystem bisher noch nicht anwenden konnten, realisiert Ihr zurzeit damit ein großes Vorhaben für einen privaten Bauträger im Premiumsegment. Inwiefern habt Ihr Euer Konzept dafür weiterentwickelt?
MF: Das neue Projekt befindet sich in Marzahn-Hellersdorf, in unmittelbarer Nachbarschaft zu standardisierten Plattenbauten aus den 1970er- und 80er-Jahren. Wir werden hier sozusagen mit der eigenen Vergangenheit der Fertigteilbauweise mit allen daran haftenden Assoziationen konfrontiert. Damit geht die Frage einher, mit welchen Ambitionen man heute an diese Art zu bauen herangeht, was man von ihr lernen kann und will, und inwiefern man sich davon abgrenzt. Wie man beispielweise mit der Rauheit und Härte umgeht, die diese Bauweise in der allgemeinen Wahrnehmung hat. Im Prinzip arbeiten wir mit demselben System wie beim Wohnregal, aber mit einer anderen Erschließungssituation: Es gibt einen vorgehängten Laubengang und Freisitze. Wir experimentieren in Hellersdorf und testen die Flexibilität unseres Systems, denn wir haben hier einen ganz anderen Maßstab zu bewältigen, wir planen circa 130 Wohneinheiten.
ALN: Wenn man den Entwurf mit den benachbarten Plattenbauten vergleicht, stellt man einen enormen Qualitätssprung fest, den Ihr mit der Außenerschließung und den zugeordneten Freiräumen schafft, obwohl Ihr Euch im Prinzip in der Tradition der Fertigteilbauweise bewegt. Es ist eine verpasste Chance, dass die öffentlichen Bauträger am Vergaberecht scheitern und diese Innovationen nicht mit vorantreiben können und es dem privaten Wohnungsmarkt überlassen, das Konzept zu verwirklichen. Welchen Ansatz verfolgt Ihr hinsichtlich der Frage der Ökonomie, damit möglichst viele Normalverdienende sich eine Wohnung dort leisten können?
MF: Da wir als Architekten hier keinen Zugriff auf die Vermarktung und die Preisgestaltung haben, haben wir sehr viel Arbeit in die Grundrissentwicklung gesteckt und mehr als 20 verschiedene Typen entwickelt, damit sich hier eine möglichst große Bandbreite von Lebensmodellen abbilden kann. Die ökonomische Prämisse lag jedoch vor allem in dem Ansatz, sehr gut geschnittene Grundrisse zu entwerfen und dadurch effiziente Wohnungsgrößen anbieten zu können. Wir haben also versucht, die Frage der Leistbarkeit architektonisch zu formulieren. Der größte Anteil des Wohnungsangebots liegt im kleinen bis mittleren Segment zwischen 40 und 80 Quadratmetern, es gibt einige größere Maisonette-Typen, die über 110 Quadratmeter verfügen. Alle Wohneinheiten sind durchgesteckt und besitzen zugeordnete Freiräume, so dass die zukünftigen Bewohner-*innen die Ausrichtung der Funktionen und damit die Frage von Öffentlichkeit und Privatheit flexibel festlegen können.
ALN: Dieses Gespräch fokussiert auf die Ökonomie des Bauens in Berlin, die, wie Ihr eindrücklich beschrieben habt, immer stärker von der Bodenfrage abhängt. Damit sprecht Ihr aber auch ein Dilemma an: Einerseits profitiert Ihr von den Marktmechanismen, wenn Ihr selbst als Entwickler auftretet, andererseits müsst Ihr im Sinne der Allgemeinheit gegen sie arbeiten. Um aus dieser ökonomischen Spirale herauszukommen, braucht es andere Modelle wie die sich in Gründung befindliche Stadtbodenstiftung als zivilgesellschaftliche Initiative oder der Bodenfonds von Seiten des Senats. Es gibt nach Jahrzehnten endlich ein Umdenken, aber vielleicht ist es schon längst zu spät, denn ein Großteil der Flächen, die sich einmal im öffentlichen Besitz befanden, ist bereits privatiert. Das haben wir in der Ausstellung 1989–2019: Politik des Raums im Neuen Berlin und der dazugehörigen Ausgabe von ARCH+ aufgezeigt.
VvB: Das ist ein zentrales Problem. Wir müssen auf der systemischen Ebene an der Bodenfrage ansetzen, weil die heutigen Grundstückspreise keine Experimente mehr zulassen. Für mich besteht die Lösung aus einer Kombination aus Erbbaurecht, um Grundstücke aus der Vermarktung und damit aus spekulativen, profitorientierten Zwängen herauszulösen, und dem persönlichen Kontakt zwischen Architekt-*innen und Bauherrschaft, zum Beispiel Genossenschaften. Es ist eine positive Entwicklung, dass die Stadt verstärkt Modellprojekte fördert, Konzeptverfahren ausschreibt und zunehmend Erbbaurechte vergibt. Dadurch werden Grundstücke aus der Vermarktungslogik herausgenommen und für Baugemeinschaften überhaupt erst zugänglich. Die Frage ist dann, wie man solche Modelle verallgemeinern und auf andere Bedingungen übertragen kann. Dabei müssen wir auch unsere Rolle als Architekt-*innen hinterfragen und weiterentwickeln. Wir können uns in Partizipationsprozesse einbringen und haben Einblick in diverse Lebensentwürfe gewonnen. Wir müssen aber auch damit umgehen können, für anonyme Nutzer-*innen zu planen, wenn wir beispielsweise für eine Wohnungsbaugesellschaft arbeiten. Daraus ergibt sich eine Spannung zwischen einem autonomen Architekturverständnis und der Notwendigkeit, sich in die anonymen Nutzer-*innen hineinzuversetzen. Für uns wäre das jetzt der logische nächste Schritt: Wie können wir unsere Erkenntnisse und Erfahrungen mit öffentlichen Auftraggebern, Baugruppen und anderen privaten Bauherren nutzen, um architektonische Qualitäten zu schaffen, aber auch zukünftige Formen des Wohnens und Arbeitens zu ermöglichen?
ALN: Provokant gefragt: Ist die Zeit der kleinteiligen, selbstinitiierten Projekte vorbei? Sind jetzt wieder die großen Player gefragt? Und wenn ja, ist das erstrebenswert?
PT: Das hängt sicherlich damit zusammen, dass, wie Du beschrieben hast, in den vergangenen Jahren die letzten Grundstücke, auf denen man noch experimentieren konnte, privatisiert worden sind. Das ist jetzt vorbei. Die Preise sind heute so hoch, dass wir alle es uns gar nicht mehr leisten können, alternative Modelle zu erproben. Wir sind in einer Situation, in der wir zusammen mit den öffentlichen Auftraggebern eine Lösung finden müssen, um weiterhin kleinteilige Experimente zu ermöglichen. Denn die großen Player sind teilweise verkrustet und so überlastet, dass sie keinen neuen Weg beschreiten können oder wollen. Wir müssen dem Land Berlin – die BIM regiert eigentlich als eine Art Monopolist über den noch verfügbaren Boden – unter die Arme greifen und auf der administrativen Ebene vermitteln, was architektonisch auf den Grundstücken möglich ist. Wir Architekt--*innen müssen wieder verstärkt systemischen und strukturellen Einfluss auf die Stadtpolitik nehmen.
AW: Ich halte die aktuelle Entwicklung für sehr zwiespältig. Einerseits ist es gut, dass die öffentliche Hand gegen die Bodenspekulation vorgeht und die Grundsstücksreserven endlich wertschätzt. Andererseits sollten wir darauf drängen, dass die Projektentwicklungen nicht ausschließlich bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften landen, wenn wir weiterhin einen architektonischen Beitrag leisten sollen. Denn die Stadt Berlin braucht geradezu diejenigen Architekt---*innen, die sich für Qualität, Vielfalt und Weiterentwicklung im Wohnungsbau einsetzen, als unabhängige, experimentier-freudige Player. Wir sind bereit, unsere Verantwortungsbereiche zu erweitern.
Mitarbeit: Sascha Kellermann, Nora Dünser
Der Artikel ist erschienen in ARCH+ 242: Berlin Praxis. Von Handlungsoptionen und politischer Verantwortung. Berlin, Januar 2021, ISBN 978-3-931435-63-9. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von ARCH+ Verlag GmbH.