Copa-Kritik verboten?
Copa-Kritik verboten?
Am Vortag der Fußballweltmeisterschaft der Männer drangen Zivilpolizisten in unser Haus ein. Von unserem Internetanschluss seien Blogeinträge zur „Diffamierung“ eines Politikers und zur Agitation gegen die WM versendet worden, so die Begründung. Die Polizisten sammelten Laptops, USB-Sticks und Memory-Karten, betraten offenstehende Zimmer und trugen das notwendige Werkzeug zum gewaltsamen Türöffnen bei sich. Als schließlich ein Mitbewohner angab, der Verfasser zu sein, konfiszierten sie ausschließlich seine internetfähigen Geräte.
Wir sind erst seit März in Brasilien, doch seitdem ist die nahende „Copa“ (WM) ein immer wiederkehrendes Thema. Nicht erst seit dem geschilderten Erlebnis haben wir als Schreiber_innen zum Urbanen – sei es für akademische Kontexte oder alternative Medien wie 99% URBAN – äußerst kritische Eindrücke gewonnen. Für an Stadtthemen Interessierte ist es nicht zu übersehen und -hören, wie sich das nahende Großereignis in den Raum schreibt: Ratternde Hubschrauber über den zu „befriedenden“ Favelas; patrouillierende, fahrradfahrende und berittene Polizisten an den öffentlichen Plätzen; anhaltende Streiks von Lehrer_innen, Ärtzt_innen, Busfahrer_innen und sogar der Zivilpolizei gehörten seitdem zur Tagesordnung. Doch erst die Durchsuchung unseres Hauses und das angedrohte Konfiszieren solcher Geräte, über die wir Einschätzungen und Kritik im Internet teilen und diskutieren können, hat uns veranlasst, diesen Einwurf zu schreiben – zumal auf einer Plattform wie 99% URBAN, auf der Inhalte veröffentlicht werden, die jüngst in Brasilien verfolgt werden.
Was steckt hinter einer derart radikalen Verfolgung politischer Meinungsäußerungen und welche Überwachungspraktiken haben zum Einsatz der Polizei geführt?
Razzien in privaten Wohnräumen sind zurzeit in einigen brasilianischen Städten zu beobachten. Einerseits werden sie, laut Presseartikeln, mit der „Verleumdung des Präsidentschaftskandidaten der Anti-PT Koalition Aécio Neves (PSDB, rechts-konservativ) erklärt. Dieser hat die Überwachung der Blogger_innen bei der Staatsanwaltschaft durchgesetzt. In Foren, Online-Zeitungskommentaren und sozialen Netzwerken wird er als korrupter Politiker mit Verbindungen zur Militärpolizei (PM) – ein Relikt der Militärdiktatur – benannt. Dies wird an seinen Wahlversprechen einer größeren PM-Präsenz im öffentlichen Raum festgemacht.
Zum anderen wurden in den letzten Tagen und Wochen in Rio de Janeiro und anderen Teilen Brasiliens angebliche (Anti-WM) Aktivist_innen in ihren Wohnungen „präventiv“ festgenommen. Solche und ähnliche Aktionen stehen in drastischem Widerspruch zu Gesetzen wie dem aktuell verabschiedeten Gesetz zum Schutz der Bürger_innen vor Datenüberwachung im Internet („Marco Civil da Internet“). Doch mit der vor kurzen in Kraft getretenen „Lei Geral da Copa“ (der Gesetzesvorschlag der FIFA zur WM) werden solche Gesetze ausgehebelt.
Angesichts der für die kommenden Wochen angekündigten Proteste sieht es für uns so aus, als habe die Polizei den „Verleumdungs-Vorwurf“ auch genutzt, um ihr Vorgehen gegen Aktivist_innen zu rechtfertigen. Mit diesem Einwurf richten wir uns gegen solche Einschüchterungsversuche. Diese werden ohne Erfolg bleiben, wie uns unser Erlebnis bestärkt: Obwohl wir noch über sehr wenige Kontakte zur Bewegung verfügen, bekamen wir unmittelbar viele Hilfsangebote, mit Kontakten zu Anwaltskollektiven, Webseiten zum Erfahrungsaustausch und vielen anderen kreativen Ideen zur Weiterführung der Proteste. Die Copa-Kritik zeigt einen breiten gesellschaftlichen Willen zur Veränderung – dieser lässt sich nicht so einfach verbieten.
Podcast zum Thema: