Stadt für alle?
Stadt für alle?
Eine kritische Bestandsaufnahme der Gruppe Soft Soil
SOFT SOIL is an nGbK working group and event series that thematises the attrition of urban structures through privatisation and speculation, and the malleability of urban space through everyday practices and resistance.
The following text is an edited transcript of SOFT SOIL's speech opening the first of three 'blocks' of events (February 14-16, 2020) entitled Bestandsaufnahme: There's no such thing as a city for all (yet) and held in both English and German.
SOFT SOIL's second 'block', Beyond Emergency, will take place on August 14-16, 2020. More information here.
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Herzlich Willkommen zum ersten Abend von SOFT SOIL. Wir – Jennifer Bennett, Sonja Hornung, siddhartha lokanandi, Vicky Kiefer und Sonya Schönberger – sind eine Gruppe, die sich zwischen kritischer Forschung, bildender Kunst, Geographie und städtischem Aktivismus bewegt.
SOFT SOIL ist ein diskursives Format, das 2020 in drei Blöcken von Veranstaltungen, die zwischen anderen Ausstellungen stattfinden, zur nGbK zurückkehrt.
Wir haben den Titel SOFT SOIL gewählt, um eine gewisse Ambivalenz zu beschreiben: Berlin ist eine Stadt, die auf sandigem Boden gebaut ist. Das steht für uns für zwei Aspekte: (1) die Ab- und Ausnutzung städtischer Strukturen und Gemeinschaften durch Privatisierung sowie private Spekulation und (2) die Formbarkeit von städtischem Raum durch gemeinsames Handeln und alltägliche Praktiken von Widerstand.
Zwar handelt es sich bei Berlin um eine Stadt, die große Teile ihrer öffentlichen Infrastruktur rasch privatisiert hat, aber gleichzeitig müssen wir auch anerkennen, dass ihre öffentliche Strukturen nie „für alle“ funktionierten. Wir gehen nicht davon aus, dass kommunales Eigentum – oder „Freiräume“ – für jede_n zugänglich sind. SOFT SOIL ist ein Format, bei dem es darum gehen wird, diese komplexen Strukturen anzuschauen und gemeinsam zu durchdenken. Wir möchten uns gemeinsam mit euch fragen: Welche Ideale prägen die Raumproduktion und was könnte »Stadt für alle« wirklich bedeuten?
Today, as many of you know, the nGbK itself is not exempt from these questions. Oranienstraße 25 has recently been sold to what seems to be a letterbox company located in Luxemburg, representing a direct threat also to others active in the building, including co-tenant Kisch & Co. The access to space and time, money and resources that this institution shares with us is connected to a certain privilege, which we here use to explore urgent questions together with some of those people and groups who have, for years, taken on the task of caring for the city from the bottom up. We do this in a praxis of solidarity, in order to share resources, experiences and knowledge.
Two years before the founding of the nGbK in 1969, sociologist Henri Lefebvre published Le Droit à la ville (The Right to the City, 1967), a text that many working at the intersection between art, urban research and activism draw on heavily. The The Right to the City is a plaidoyer for the right not just to inhabit, but to form the city. This idea of forming/shaping/producing the city from below is an aspect that will accompany us throughout the entire SOFT SOIL project.
Yet: as with Marx, at the heart of Lefebvre's plea are the working classes, which he sees as being the “victim of segregation”: increasingly pushed to the peripheries and violently dispossessed of the Western cities it inhabits by modernist urban development formats. Indeed Lefebvre’s text contains no mention of other significant shifts that bore direct relation to the urban question at the time, including the relation between migration to Western European cities and colonial liberations on the African continent, and the culmination of resistance struggles to formal and informal apartheid and racialised segregation, most explicitly in the USA and South Africa.
In The Right to the City, segregation is hyperlocal, framed as a colourblind, class-based problem only. But it is impossible to think Western cities, as well as the capitalist system, without acknowledging that both are built on the accumulation of wealth and exploitation of labour based on racism, colonialism, and sexism.
Through the title of our first event 'block' There's no such thing as a city for all (yet) we try to engage with a change of perspective to counter this blindspot, following on the work of others, including activists and theorists such as Zwischenraumkollektiv (who in 2012 published the book Decolonize the City). They have shown that the image of the ‚modern city‘ has been shaped by contradictions since its colonial foundations, and that these contradictions still permeate everyday urban life today. People with migrant experience and People of Color have been a driving force for urban struggles in Berlin, something we would like, as a working group, to acknowledge when we try to formulate what working for a Stadt für alle could mean.
In den letzten Jahrzehnten wurden die Eigentumsstrukturen in Berlin und damit auch die Zugehörigkeitsstrukturen extremen und schnellen Veränderungen unterworfen, die die meisten von uns persönlich erlebt haben. Heute Abend und im Lauf dieses Wochenendes werden wir uns die immer drastischere asymmetrische Verteilung des Zugangs zur und das Recht auf Stadt genauer ansehen.
Die „kreative Klassen“ und die Mittelschicht der Stadt haben damit begonnen, dieses Recht zu verteidigen, insbesondere im Bezug auf den Wohnungsbau. Der Mietendeckel ist ein Ergebnis dieser Gegenwehr. Menschen, die in den 1960er und 70er Jahren als Gast- oder Vertragsarbeiter_nnen nach West- und Ostberlin kamen, sind von Deregulierung, Privatisierung und Touristisierung oft besonders betroffen, da sie von Anfang in Situationen der formellen und informellen Segregation gedrängt wurden. Diese Situationen werden durch den stets vorhandenen und zuletzt stark angestiegenen Rassismus auf dem Immobilienmarkt verschärft, wie Emsal Kilic seit ihrer Studie (2010) immer wieder deutlich macht.
Im Jahr 2018 stiegen die Berliner Immobilienpreise schneller als in jeder anderen westlichen Metropole. Gleichzeitig machten es rechtliche Strukturen zum Schutz von Privateigentum sehr schwierig, herauszufinden, wem ein Gebäude eigentlich gehört – und das in einer Stadt, in der 85% der Bevölkerung Mieter_innen sind! Wie bekommt man Zugang zu und Informationen über Raum? – Syndikat, eine Kiezkneipe in Neukölln, die akut bedroht ist, zeigt durch ihre Recherche, wie man sich gegen Enteignung und Räumung wehren kann. Auch die Bewohner_innen von Lause e.V., zwei von Räumung bedrohte Häuser in der Lausitzer Straße, kämpfen mit ihren ganz eigenen Mitteln für ein Recht auf Stadt.
Nach 1990 hat sich das Stadtleben durch Privatisierungsmaßnahmen und neoliberale Einschnitte stark verändert: durch eingeschränkten Zugang zu Sozialhilfe, Gesundheitsversorgung, sicheren Arbeitsplätzen und Wohnraum wurde der Alltag erschwert. Für viele war und ist jedoch selbst der Zugang zu solchen Strukturen grundsätzlich eingeschränkt und kontrolliert. Solidarity City Berlin erarbeitet Strukturen, um dies zu ändern. Auch Corasol, die die Zunahme rassistischer Ausgrenzung in sogenannten öffentlichen Strukturen Berlins thematisieren, erarbeiten mögliche Wege, sich dagegen zu wehren.
Solche Fragen sind Teil globaler Dynamiken, die wir auch von der Perspektive von Filmschaffenden jenseits Berlin kennenlernen möchten. Nach den drei Workshops wird unter dem Titel Menschen im Experiment der Filmkurator Florian Wüst eine Auswahl an Filmen und Ausschnitten von u.a. Ayo Akingbade und Nina Stürm & Hans Stürm zeigen, anhand derer wir die Geschichte und Gegenwart des kapitalistischen Städtebaus, alternativer Wohnmodelle und geteilter Räume überdenken.
Infolge der breit angelegten Deindustrialisierung und der umfassenden Privatisierung haben sich Lücken im geplanten Stadtgefüge aufgetan, die als „Freiräume“ geltend gemacht und stark umkämpft wurden und werden. Denn die verbleibenden Lücken sind auch heute noch wichtig für Künstler_nnen, Aktivist_nnen und marginalisierte Personen, wie armutsbetroffene oder von Rassismus ausgregrenzte Menschen. Diese „Freiräume“ werden jedoch im Rahmen der aktuellen dienstleistungsorientierten Tourismuswirtschaft gewinnbringend vermarktet. Gibt es die Möglichkeit, dass die verschiedenen Positionen zusammenkommen, um deutlich zu machen, dass Gentrifizierung nicht in „unserem Namen“ passieren soll? Welchen anderen Herausforderungen lassen sich durch gemeinsames Handeln hinterfragen und aufbrechen? Mit diesen und anderen Fragen werden wir uns in einem offenen Austausch beschäftigen, der von Kunstblock and beyond moderiert wurde. Danach besuchen wir gemeinsam eine Gala von keinhausweniger im Festsaal Kreuzberg.
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Diese Fragen werden auch in den nächsten Blöcken im August und November aufgegriffen, in denen wir SOFT SOILs „Bestandsaufnahme” vertiefen möchten. Uns interessiert ein Raumverständnis, dass durch linkes, anti-rassistisches, feministisches und queeres Denken geprägt ist, das sich gegen rechte und faschistische Bedrohungen stellt. Denn dieses ist fähig, Beziehungen, Verknüpfungen und Überschneidungen in den Blick zu nehmen, um jenseits von Konkurrenz und individualisierten Auseinandersetzungen ein solidarisches Handeln für eine andere/gerechte Stadt zu ermöglichen.
The following text is an edited transcript of SOFT SOIL's speech opening the first of three 'blocks' of events (February 14-16, 2020) entitled Bestandsaufnahme: There's no such thing as a city for all (yet) and held in both English and German.
SOFT SOIL's second 'block', Beyond Emergency, will take place on August 14-16, 2020. More information here.
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Herzlich Willkommen zum ersten Abend von SOFT SOIL. Wir – Jennifer Bennett, Sonja Hornung, siddhartha lokanandi, Vicky Kiefer und Sonya Schönberger – sind eine Gruppe, die sich zwischen kritischer Forschung, bildender Kunst, Geographie und städtischem Aktivismus bewegt.
SOFT SOIL ist ein diskursives Format, das 2020 in drei Blöcken von Veranstaltungen, die zwischen anderen Ausstellungen stattfinden, zur nGbK zurückkehrt.
Wir haben den Titel SOFT SOIL gewählt, um eine gewisse Ambivalenz zu beschreiben: Berlin ist eine Stadt, die auf sandigem Boden gebaut ist. Das steht für uns für zwei Aspekte: (1) die Ab- und Ausnutzung städtischer Strukturen und Gemeinschaften durch Privatisierung sowie private Spekulation und (2) die Formbarkeit von städtischem Raum durch gemeinsames Handeln und alltägliche Praktiken von Widerstand.
Zwar handelt es sich bei Berlin um eine Stadt, die große Teile ihrer öffentlichen Infrastruktur rasch privatisiert hat, aber gleichzeitig müssen wir auch anerkennen, dass ihre öffentliche Strukturen nie „für alle“ funktionierten. Wir gehen nicht davon aus, dass kommunales Eigentum – oder „Freiräume“ – für jede_n zugänglich sind. SOFT SOIL ist ein Format, bei dem es darum gehen wird, diese komplexen Strukturen anzuschauen und gemeinsam zu durchdenken. Wir möchten uns gemeinsam mit euch fragen: Welche Ideale prägen die Raumproduktion und was könnte »Stadt für alle« wirklich bedeuten?
Today, as many of you know, the nGbK itself is not exempt from these questions. Oranienstraße 25 has recently been sold to what seems to be a letterbox company located in Luxemburg, representing a direct threat also to others active in the building, including co-tenant Kisch & Co. The access to space and time, money and resources that this institution shares with us is connected to a certain privilege, which we here use to explore urgent questions together with some of those people and groups who have, for years, taken on the task of caring for the city from the bottom up. We do this in a praxis of solidarity, in order to share resources, experiences and knowledge.
Two years before the founding of the nGbK in 1969, sociologist Henri Lefebvre published Le Droit à la ville (The Right to the City, 1967), a text that many working at the intersection between art, urban research and activism draw on heavily. The The Right to the City is a plaidoyer for the right not just to inhabit, but to form the city. This idea of forming/shaping/producing the city from below is an aspect that will accompany us throughout the entire SOFT SOIL project.
Yet: as with Marx, at the heart of Lefebvre's plea are the working classes, which he sees as being the “victim of segregation”: increasingly pushed to the peripheries and violently dispossessed of the Western cities it inhabits by modernist urban development formats. Indeed Lefebvre’s text contains no mention of other significant shifts that bore direct relation to the urban question at the time, including the relation between migration to Western European cities and colonial liberations on the African continent, and the culmination of resistance struggles to formal and informal apartheid and racialised segregation, most explicitly in the USA and South Africa.
In The Right to the City, segregation is hyperlocal, framed as a colourblind, class-based problem only. But it is impossible to think Western cities, as well as the capitalist system, without acknowledging that both are built on the accumulation of wealth and exploitation of labour based on racism, colonialism, and sexism.
Through the title of our first event 'block' There's no such thing as a city for all (yet) we try to engage with a change of perspective to counter this blindspot, following on the work of others, including activists and theorists such as Zwischenraumkollektiv (who in 2012 published the book Decolonize the City). They have shown that the image of the ‚modern city‘ has been shaped by contradictions since its colonial foundations, and that these contradictions still permeate everyday urban life today. People with migrant experience and People of Color have been a driving force for urban struggles in Berlin, something we would like, as a working group, to acknowledge when we try to formulate what working for a Stadt für alle could mean.
In den letzten Jahrzehnten wurden die Eigentumsstrukturen in Berlin und damit auch die Zugehörigkeitsstrukturen extremen und schnellen Veränderungen unterworfen, die die meisten von uns persönlich erlebt haben. Heute Abend und im Lauf dieses Wochenendes werden wir uns die immer drastischere asymmetrische Verteilung des Zugangs zur und das Recht auf Stadt genauer ansehen.
Die „kreative Klassen“ und die Mittelschicht der Stadt haben damit begonnen, dieses Recht zu verteidigen, insbesondere im Bezug auf den Wohnungsbau. Der Mietendeckel ist ein Ergebnis dieser Gegenwehr. Menschen, die in den 1960er und 70er Jahren als Gast- oder Vertragsarbeiter_nnen nach West- und Ostberlin kamen, sind von Deregulierung, Privatisierung und Touristisierung oft besonders betroffen, da sie von Anfang in Situationen der formellen und informellen Segregation gedrängt wurden. Diese Situationen werden durch den stets vorhandenen und zuletzt stark angestiegenen Rassismus auf dem Immobilienmarkt verschärft, wie Emsal Kilic seit ihrer Studie (2010) immer wieder deutlich macht.
Im Jahr 2018 stiegen die Berliner Immobilienpreise schneller als in jeder anderen westlichen Metropole. Gleichzeitig machten es rechtliche Strukturen zum Schutz von Privateigentum sehr schwierig, herauszufinden, wem ein Gebäude eigentlich gehört – und das in einer Stadt, in der 85% der Bevölkerung Mieter_innen sind! Wie bekommt man Zugang zu und Informationen über Raum? – Syndikat, eine Kiezkneipe in Neukölln, die akut bedroht ist, zeigt durch ihre Recherche, wie man sich gegen Enteignung und Räumung wehren kann. Auch die Bewohner_innen von Lause e.V., zwei von Räumung bedrohte Häuser in der Lausitzer Straße, kämpfen mit ihren ganz eigenen Mitteln für ein Recht auf Stadt.
Nach 1990 hat sich das Stadtleben durch Privatisierungsmaßnahmen und neoliberale Einschnitte stark verändert: durch eingeschränkten Zugang zu Sozialhilfe, Gesundheitsversorgung, sicheren Arbeitsplätzen und Wohnraum wurde der Alltag erschwert. Für viele war und ist jedoch selbst der Zugang zu solchen Strukturen grundsätzlich eingeschränkt und kontrolliert. Solidarity City Berlin erarbeitet Strukturen, um dies zu ändern. Auch Corasol, die die Zunahme rassistischer Ausgrenzung in sogenannten öffentlichen Strukturen Berlins thematisieren, erarbeiten mögliche Wege, sich dagegen zu wehren.
Solche Fragen sind Teil globaler Dynamiken, die wir auch von der Perspektive von Filmschaffenden jenseits Berlin kennenlernen möchten. Nach den drei Workshops wird unter dem Titel Menschen im Experiment der Filmkurator Florian Wüst eine Auswahl an Filmen und Ausschnitten von u.a. Ayo Akingbade und Nina Stürm & Hans Stürm zeigen, anhand derer wir die Geschichte und Gegenwart des kapitalistischen Städtebaus, alternativer Wohnmodelle und geteilter Räume überdenken.
Infolge der breit angelegten Deindustrialisierung und der umfassenden Privatisierung haben sich Lücken im geplanten Stadtgefüge aufgetan, die als „Freiräume“ geltend gemacht und stark umkämpft wurden und werden. Denn die verbleibenden Lücken sind auch heute noch wichtig für Künstler_nnen, Aktivist_nnen und marginalisierte Personen, wie armutsbetroffene oder von Rassismus ausgregrenzte Menschen. Diese „Freiräume“ werden jedoch im Rahmen der aktuellen dienstleistungsorientierten Tourismuswirtschaft gewinnbringend vermarktet. Gibt es die Möglichkeit, dass die verschiedenen Positionen zusammenkommen, um deutlich zu machen, dass Gentrifizierung nicht in „unserem Namen“ passieren soll? Welchen anderen Herausforderungen lassen sich durch gemeinsames Handeln hinterfragen und aufbrechen? Mit diesen und anderen Fragen werden wir uns in einem offenen Austausch beschäftigen, der von Kunstblock and beyond moderiert wurde. Danach besuchen wir gemeinsam eine Gala von keinhausweniger im Festsaal Kreuzberg.
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Diese Fragen werden auch in den nächsten Blöcken im August und November aufgegriffen, in denen wir SOFT SOILs „Bestandsaufnahme” vertiefen möchten. Uns interessiert ein Raumverständnis, dass durch linkes, anti-rassistisches, feministisches und queeres Denken geprägt ist, das sich gegen rechte und faschistische Bedrohungen stellt. Denn dieses ist fähig, Beziehungen, Verknüpfungen und Überschneidungen in den Blick zu nehmen, um jenseits von Konkurrenz und individualisierten Auseinandersetzungen ein solidarisches Handeln für eine andere/gerechte Stadt zu ermöglichen.