Auf dem Dorf, in der Stadt
Auf dem Dorf, in der Stadt
Nördliches Ruhrgebiet, im Bus nach Einbruch der Dunkelheit. Es ist Sommer,
dunkel heißt spät, und der Bus ist spärlich besetzt. Vor dem Fenster
Siedlungs-Sowohl-als-auch, typisch für die Gegend: dünn besiedelt und dicht,
industriell und grün, individuell und kollektiv, kaputt und adrett. Licht in den
Fenstern deutet an, hier lebt tatsächlich wer. Die Straßen selbst jedoch sind
verlassen, auf leicht beunruhigende Weise. Der Kontrast zwischen innen und
außen macht klar, abends gehört man hier nach Hause. Dementsprechend auch
die Atmosphäre im Bus. Nur Männer, alle für sich, man nimmt keine Notiz voneinander. Öffentlich fährt hier nur, wer keine andere Möglichkeit hat.
Jeder Halt des Busses lädt ein zur Spekulation. Wie wäre das eigene Leben, käme
man hier und jetzt nach Hause? Ankommen, der Begriff hat etwas Ländliches,
lässt den Raum mitschwingen, der überwunden werden musste. Ankommen auf
dem Dorf: Ein Haus, das im Scheinwerferkegel auftaucht, ein Motor, der
ausgeschaltet wird. Die plötzliche Ruhe, die Weite nach dem Aussteigen, aber
auch das Haus samt seiner Bewohnerinnen, von denen man weiß, sie erwarten einen.
Draußen und Drinnen, zwei Zustände, zwei Extreme, eindeutig voneinander
abgegrenzt, ohne Zwischenräume: Häuser eingebettet in eine Landschaft, die
nachts unzugänglich ist, überschaubare Gemeinschaften, zu denen man keinen
Zugang hat. Eine Siedlungsform, praktisch ohne öffentliche Räume. Aber obwohl
das Ruhrgebiet oft als Stadtlandschaft bezeichnet wird, den Straßen und
Gebäuden haftet nichts Ländliches an. Endlos künstlich ist diese Umgebung und
eindeutig urban ihre Vielfalt an Formen und Funktionen, an Maßstäben und
Typologien.
Der Bus hält an einer großen Kreuzung, das Smartphone sagt umsteigen. Ein
Hochhaus steht hier, hell erleuchtet, ihm gegenüber ein Baumarkt und Büros.
Doch die Straßen sind derart dunkel, dass man die Haltestelle ein paar Meter
weiter kaum sieht. Dort aber ein Schalter, um den Straßenrand vorübergehend zu
erhellen. Erlischt das Licht, tritt plötzlich der Nachthimmel hervor, als säße man
am Rand einer Lichtung, in einem dunklen Wald aus abweisenden Häusern.
Mitten in einer der größten Agglomerationen Europas scheint Stadt oder Land
keine Frage von Lebenswelten, sondern eine der Raumeinteilung, des
Verhältnisses von Privat und Öffentlich.
Flachland
Als Städte und Dörfer noch hierarchisch verbunden waren, muss das anders
gewesen sein. Stadt bedeutete Möglichkeiten, das Leben auf dem Dorf war
rückständig und isoliert. Heute dagegen sind die Unterschiede so gering wie noch
nie. Es gibt kaum noch Lebensentwürfe, die nur einer Umgebung zuzuschreiben
sind, ebenso wenig wie Wissen oder Erfahrungen. Überall ist alles verfügbar und
alle können wie sie wollen, jederzeit. Auch früher gab es die räumlichen
Unterschiede, nur heute scheinen sie die einzig verbliebenen. Städtisch sind
graduelle Übergänge und fließende Räume, Schichtungen und Zwischenformen.
Auf dem Land dagegen klare Unterscheidungen: innen, außen; dazwischen
nichts. Ein Innen, das aus diskreten Inseln besteht, getrennt von einem Außen-Meer, das erst überwunden werden muss. Und je größer der Abstand zwischen den Inseln, desto ländlicher die Gegend.Aber gerade weil es nur noch um Raum zu gehen scheint, wird das gesellschaftliche Zusammenspiel wieder interessant. Nicht mehr, wie früher, als Ursache der räumlichen Verhältnisse, aber als deren Konsequenz: Ist das gleiche Leben auf dem Dorf ein anderes als in der Stadt?
Inselleben
die kaum je ohne Einverständnis überschritten werden. Der Alltag als Reihung diskreter Räume, die direkt anzusteuern sind, ohne Zwischenfälle auf dem Weg. Je nur wenigen Menschen zugänglich, also gleichermaßen intim und kontrolliert,ein Inselleben, das öffentlich kaum je sichtbar wird. Vielleicht festgelegter,vielleicht aber auch unabhängiger, weil geringeren Veränderungen unterworfen als das Leben in der Stadt? Zwei Formen des Zugriffs auf den Raum, die je ein anderes Denken und Fühlen bedingen? Zugriff, das Wort verweist auf einen weiteren Aspekt. Was, wenn der physische Raum zwar einen offensichtlichen Unterschied zwischen Stadt und Land markiert, es aber eigentlich um Praktiken geht, darum, wie Menschen über Raum verfügen? Was, wenn man sich den Zwischenräumen entzieht, um auch in der Stadt zu leben wie auf dem Dorf? Und wenn sich die Lebenswelten schon längst durchdringen, was bringen Unterscheidungen dann noch?
Stadtdörfer
Vieles spricht dafür, dass dorfartiges Leben längst Teil des städtischen, ja vor allem des großstädtischen Alltags ist. Gerade unpersönliche Umgebungen machen es leicht, sich dem Fremden zu entziehen, an Technologien hierfür mangelt es nicht. Vom Auto zum Fahrrad zum Mobiltelefon, sie alle erlauben es,Räume zu überwinden, ohne Interaktion zu riskieren. Die Analogie des Dorfs in der Großstadt ist nicht der halböffentliche Kiez, sondern die diskrete Aneinanderreihung kontrollierter Inseln, bei denen man weiß, was einen erwartet. Eindeutige Adressierungen statt graduelle Übergänge, das ist nicht nur die Logik der Dörfer, sondern auch des Internet, das selbstgewählte Arrangement der Orte als Realversion der Filterblase. Ist das eine Tendenz, eine kritische sogar? Sind die Kategorien notwendig, um das eine gegen das andere Leben abzuwägen? Oder geht es um ein Nebeneinander? Tatsächlich gibt es keine Ausschließlichkeiten, scheint ein Sowohl-als-auch stets möglich. Stadt- oder Dorfbewohnerin? Kommt ganz darauf an, was gerade so anliegt. Nützlich wäre es aber doch, bildeten sich beide Lebensformen stärker ab, räumlich wie institutionell. Dass manche Räume explizit städtisch gedacht und verwaltet werden, im Sinne ihrer Offenheit. Dass umgekehrt aber auch das dörfliche Bemühen um Beständigkeit seinen Platz hat, ohne erzwungene Veränderungen. Also das Eine und das Andere, in vollem Bewusstsein der jeweiligen Möglichkeiten und Implikationen.