Editorial Raumpolitiken und -kämpfe
Editorial Raumpolitiken und -kämpfe
Anna-Lena Wenzel
Die Raumproblematik in ihren vielen Facetten ist so drängend wie nie – und zugleich ein alter Hut. Schon seit Jahren wird über die steigenden Mieten geklagt und kontrovers über die Veränderungen und die Verdichtung der Städte und öffentlichen Räume diskutiert. „Zu der Unsicherheit, die heutzutage viele bezüglich der Verlässlichkeit ihrer Einkommen haben, kommt also die Sorge: Kann ich mir meine Wohnung morgen noch leisten? Muss ich vielleicht wegziehen?" stellt die Soziologin Jutta Allmendigner fest und benennt damit die Akkumulation von Verunsicherungen, mit denen heute viele vor allem in den Großstädten zu kämpfen haben. 99% Urban ist dem Thema schon öfter nachgegangen: ganz zu Beginn mit einem Beitrag über die Zwänge des Immobilienmarktes, die dazu führen, dass heute viele Menschen mit der Angst leben, ihren Wohnraum zu verlieren und verdrängt zu werden. Die Konfliktlinien und Grabenkämpfe rund um das Thema Gentrifizierung haben wir am Beispiel der Markthalle 9 in Kreuzberg diskutiert und vor Ort eine Veranstaltung organisiert, um eine Debatte über den sozialen Konflikt zwischen Discounter-Grundversorgungsbedürfnissen und dem Bio-lokal-Nachhaltigkeits-Hype anzuregen.
Zuletzt haben wir mit dem Schwerpunkt zu Obdachlosigkeit die Folgen von Verdrängung und Wohnungsnot in den Blick genommen und einen Beitrag über die Besitzverhältnisse in der Oranienstraße veröffentlicht, in dem Naomi Hennig einen differenzierten Blick auf die verschiedenen Akteure und ihre Interessen wirft – vom Gemeinnützigen Siedlungswerk bis zu Citec Immo Berlin GmbH und dem Immobilienfond Deutsche Investment Kapitalverwaltungsgesellschaft mbH ist hier die Rede. Deutlich wird: Immobilien werden zu einer Ware, die international gehandelt wird. Renditeerwartungen werden gnadenlos weiter gegeben ohne Rücksicht auf lokale Strukturen und Bedürfnisse. Häufige Besitzerwechsel gehen einher mit undurchschaubaren Strukturen und unerreichbaren Akteur*innen.
Getreu unserem Ansatz, dass es nie so einfach ist, wie es scheint, möchten wir das Thema Raum in seiner Komplexität darstellen und es aus unterschiedlichen Perspektiven anschauen. Eine Folge der erhöhten Raumpreise ist, dass nicht nur viel mit Immobilien gehandelt, sondern auch viel gebaut wird. Wilma Renfordt berichtet in ihrem Recherchetagebuch von ihren Begegnungen auf Großbaustellen. Wessen Interessen werden da eigentlich verfolgt? Wie sind sie miteinander verwoben? Wer profitiert?
Dass Eigentümer*innen nicht per se Immobilienspekulanten sein müssen, sondern auch Einzelpersonen sind, die durchaus auf Mieterdemos gehen, zeigt mein Beitrag über Eigentümer*innen, die auf Mietdemos gehen. Ich bin in letzter Zeit öfter darüber gestolpert, dass einerseits über Vermieter*inen geschimpft wird, es andererseits aber eine beträchliche Zahl von Eigentümer*innen in meinem Umfeld gibt, die das Besitzen von Wohnraum als Alterssitz und als sichere Wertanlage gleichermaßen befürworten. Doch wie wird man heutzutage zu einem Eigentümer? Indem man erbt. Wer erbt? Vorwiegend Westdeutsche. Eigentumsverhältnisse verschärfen bestehende Ungleichheiten zwischen arm und reich, Ost und West, das macht sie so problematisch. Hinzu kommt eine zunehmende Segregation der Städte. Da die Preise in den Innenstadtbereichen rasanter wachsen, ist hier der Verdrängungsdruck besonders groß – und trifft Familien wie prekär lebende Menschen gleichermaßen. Doch Michael Blum zeigt in seinen Recherchen zur Oranienstraße, dass Besitzerwechsel und Mieterproteste keine neuen Phänomene sind, sondern in diesem konkreten Fall bis ins Jahr 1863 zurückreichen. Der Blick zurück hilft aktuelle Entwicklungen in anderen Relationen zu denken.
Immer schon war es uns wichtig, Geschichten nicht einseitig zu erzählen. Genauso handhaben wir es mit dem neuen Schwerpunkt. Nicht nur von der Raumnot soll erzählt werden, sondern auch von den Kämpfen und Bündnissen, die dazu führen, dass Raum gemeinwohlorientiert genutzt werden kann. In einem Beitrag der Initiative Stadt von unten wird mit dem Dragonerareal ein Beispiel für eine selbstverwaltet-kommunale Lösung der Bodenfrage vorgestellt, das auf einem breiten Bündnis zwischen Anwohnenden und Aktivisten basiert. Es begegnet damit dem strukturellen Problem sozialer Kämpfe, das Franz Müller in einem Interview für das Berliner Zimmer benennt, wenn er kritisiert, dass zu den Mietdemos keine Familien kommen, „die hier in der Platte wohnen, die das Thema auch total betrifft, weil sie die Hälfte ihres Einkommens für ihre Wohnung ausgeben, die es nicht wert ist. DIE müsste man dazu holen.“ Wie kann man den Kampf ausweiten?, ist die große Frage.
Dabei ist nicht nur Wohnraum umkämpft, sondern auch Gewerberäume (für gemeinnützige Einrichtungen und Kulturschaffenden gleichermaßen) und generell der öffentliche Raum. Dieser wird nicht nur verstärkt überwacht und eingezäunt, sondern auch mit E-Scootern und Bike-Sharing-Geräten vollgestellt. Es wird immer voller und ungemütlicher in der Stadt, so empfinden es viele. Gespräche über Alternativen auf dem Land gehören mittlerweile zum üblichen urbanen Smalltalk. Das liegt auch daran, dass sich Städte rasant verändern und immer homogener werden. Hierzu noch einmal Franz Müller: „Man zieht in die Großstadt und zieht eigentlich in die Provinz, weil man nur in seiner Generation oder in seiner sozialen Klasse ist. […] Es machen so viele Läden zu, die diese gewachsene Struktur hatten. Was da innerhalb kurzer Zeit geschlossen wurde, das kann eine Stadt gar nicht aufholen.“
Um deswegen nicht in Depressionen zu verfallen, sei Christiane Rösingers Musical Stadt unter Einfluss empfohlen, in dem sie singt:
Wir haben die Zukunft der Stadt im Blick
Widerstand wird jetzt voll chic!
Vorbei sind eure Zeiten im Immo-Glück
Mieterinnen stressen zurück
Fotos: Hannes Stimmann - Hafencity 2020, entstanden 2011
Zuletzt haben wir mit dem Schwerpunkt zu Obdachlosigkeit die Folgen von Verdrängung und Wohnungsnot in den Blick genommen und einen Beitrag über die Besitzverhältnisse in der Oranienstraße veröffentlicht, in dem Naomi Hennig einen differenzierten Blick auf die verschiedenen Akteure und ihre Interessen wirft – vom Gemeinnützigen Siedlungswerk bis zu Citec Immo Berlin GmbH und dem Immobilienfond Deutsche Investment Kapitalverwaltungsgesellschaft mbH ist hier die Rede. Deutlich wird: Immobilien werden zu einer Ware, die international gehandelt wird. Renditeerwartungen werden gnadenlos weiter gegeben ohne Rücksicht auf lokale Strukturen und Bedürfnisse. Häufige Besitzerwechsel gehen einher mit undurchschaubaren Strukturen und unerreichbaren Akteur*innen.
Getreu unserem Ansatz, dass es nie so einfach ist, wie es scheint, möchten wir das Thema Raum in seiner Komplexität darstellen und es aus unterschiedlichen Perspektiven anschauen. Eine Folge der erhöhten Raumpreise ist, dass nicht nur viel mit Immobilien gehandelt, sondern auch viel gebaut wird. Wilma Renfordt berichtet in ihrem Recherchetagebuch von ihren Begegnungen auf Großbaustellen. Wessen Interessen werden da eigentlich verfolgt? Wie sind sie miteinander verwoben? Wer profitiert?
Dass Eigentümer*innen nicht per se Immobilienspekulanten sein müssen, sondern auch Einzelpersonen sind, die durchaus auf Mieterdemos gehen, zeigt mein Beitrag über Eigentümer*innen, die auf Mietdemos gehen. Ich bin in letzter Zeit öfter darüber gestolpert, dass einerseits über Vermieter*inen geschimpft wird, es andererseits aber eine beträchliche Zahl von Eigentümer*innen in meinem Umfeld gibt, die das Besitzen von Wohnraum als Alterssitz und als sichere Wertanlage gleichermaßen befürworten. Doch wie wird man heutzutage zu einem Eigentümer? Indem man erbt. Wer erbt? Vorwiegend Westdeutsche. Eigentumsverhältnisse verschärfen bestehende Ungleichheiten zwischen arm und reich, Ost und West, das macht sie so problematisch. Hinzu kommt eine zunehmende Segregation der Städte. Da die Preise in den Innenstadtbereichen rasanter wachsen, ist hier der Verdrängungsdruck besonders groß – und trifft Familien wie prekär lebende Menschen gleichermaßen. Doch Michael Blum zeigt in seinen Recherchen zur Oranienstraße, dass Besitzerwechsel und Mieterproteste keine neuen Phänomene sind, sondern in diesem konkreten Fall bis ins Jahr 1863 zurückreichen. Der Blick zurück hilft aktuelle Entwicklungen in anderen Relationen zu denken.
Immer schon war es uns wichtig, Geschichten nicht einseitig zu erzählen. Genauso handhaben wir es mit dem neuen Schwerpunkt. Nicht nur von der Raumnot soll erzählt werden, sondern auch von den Kämpfen und Bündnissen, die dazu führen, dass Raum gemeinwohlorientiert genutzt werden kann. In einem Beitrag der Initiative Stadt von unten wird mit dem Dragonerareal ein Beispiel für eine selbstverwaltet-kommunale Lösung der Bodenfrage vorgestellt, das auf einem breiten Bündnis zwischen Anwohnenden und Aktivisten basiert. Es begegnet damit dem strukturellen Problem sozialer Kämpfe, das Franz Müller in einem Interview für das Berliner Zimmer benennt, wenn er kritisiert, dass zu den Mietdemos keine Familien kommen, „die hier in der Platte wohnen, die das Thema auch total betrifft, weil sie die Hälfte ihres Einkommens für ihre Wohnung ausgeben, die es nicht wert ist. DIE müsste man dazu holen.“ Wie kann man den Kampf ausweiten?, ist die große Frage.
Dabei ist nicht nur Wohnraum umkämpft, sondern auch Gewerberäume (für gemeinnützige Einrichtungen und Kulturschaffenden gleichermaßen) und generell der öffentliche Raum. Dieser wird nicht nur verstärkt überwacht und eingezäunt, sondern auch mit E-Scootern und Bike-Sharing-Geräten vollgestellt. Es wird immer voller und ungemütlicher in der Stadt, so empfinden es viele. Gespräche über Alternativen auf dem Land gehören mittlerweile zum üblichen urbanen Smalltalk. Das liegt auch daran, dass sich Städte rasant verändern und immer homogener werden. Hierzu noch einmal Franz Müller: „Man zieht in die Großstadt und zieht eigentlich in die Provinz, weil man nur in seiner Generation oder in seiner sozialen Klasse ist. […] Es machen so viele Läden zu, die diese gewachsene Struktur hatten. Was da innerhalb kurzer Zeit geschlossen wurde, das kann eine Stadt gar nicht aufholen.“
Um deswegen nicht in Depressionen zu verfallen, sei Christiane Rösingers Musical Stadt unter Einfluss empfohlen, in dem sie singt:
Wir haben die Zukunft der Stadt im Blick
Widerstand wird jetzt voll chic!
Vorbei sind eure Zeiten im Immo-Glück
Mieterinnen stressen zurück
Fotos: Hannes Stimmann - Hafencity 2020, entstanden 2011