Kriminalitäts-Hotspot, Junkietreff und Toiletten-Misere

Schwerpunkt: Kampfzone Berlin

Kriminalitäts-Hotspot, Junkietreff und Toiletten-Misere

Der Kotti als neuer Medien-Fetisch
Anna-Lena Wenzel

Seitdem der Kotti zum Spielball im Berliner Wahlkampf wurde, nehmen die reißerischen Schlagzeilen kein Ende. Während die Politiker darüber streiten, ob es sich um einen Kriminalitätsschwerpunkt oder nur einen kriminalitätsbelasteten Raum handelt, wird deutschlandweit von den „Antänzern“ am Kotti berichtet,  vor zunehmender Gewalt und organisierter Kriminalität gewarnt. Obwohl der Kotti schon immer ein rauer Ort war, soll sich die Lage in letzter Zeit noch einmal verschärft haben. Einvernehmlich wird nach mehr Polizei gerufen – ein Novum im Grün-regierten Kreuzberg. Und tatsächlich ist die Polizei präsenter, doch die Drogenszene, die sich abends mit Partyvolk mischt und tagsüber von Touristenbussen umfahren wird, hält beharrlich aus und reklamiert ihren Kotti für sich. Handelt es sich hier bloß um ein Medienphänomen aufgrund der erhöhten Sensibilität für das Thema „Innere Sicherheit“ oder ist was dran an den Berichten? In Form einer Presseschau und einer WC-Feldstudie haben wir versucht, uns einen Überblick über den Stand der Dinge zu verschaffen.

 

Presseaufschrei

5.4. Die Situation am Kotti wird zu einem „Spielball“ des Wahlkampfes zwischen Bürgermeister Müller und Innensenator Henkel. Die BZ zitiert Müller: „Keine No-go-Areas in Berlin, aber Henkel muss am Kotti handeln.“

 

7.4. Die SZ-Online Redaktion titelt: „Kreuzberger Nächte sind gefährlich. Der Berliner Kiez um den Kottbusser Platz war eine Multikulti-Oase. Jetzt zieht er brutale Räuberbanden an.“ Weiter heißt es: „Die bloßen Zahlen sprechen für ein Ja: Taschendiebstähle sind in Kreuzberg von 2014 auf 2015 um hundert Prozent gestiegen. Auch bei Raub verzeichnen die Beamten eine Zunahme um 50 Prozent. Die Polizei spricht von einer ‚neuen Form der Gewalt‘. Die Täter, junge Männer aus Tunesien, Libyen, Marokko, Ägypten, besitzen italienische, andere französische Aufenthaltstitel, auch in Deutschland registrierte Flüchtlinge sind unter den Räubern.“

 

10.04. Im ZDF läuft die Reportage „Die Antänzer vom Kottbusser Tor“, darin ist die Rede von „wachsender Gewalt, steigender Kriminalität“. Die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann fordert mehr Polizei.

 

11.4. In der Berliner Zeitung wird Ercan Yasaroglu, der Besitzer des „Kaffee Kotti“, zitiert. Er sagt, in den letzten anderthalb Jahren habe sich etwas verändert. „Wir kannten die Dealer früher, waren mit ihnen im Gespräch. Die haben sich korrekt aufgeführt, es waren ja auch Kottianer.“ So nennt Yasaroglu alle, die rund um das Kottbusser Tor wohnen, aufwachsen und arbeiten. Er zeichnet das Bild einer großen Gemeinschaft. Dann seien jedoch neue, organisierte Gruppen gekommen und hätten die ansässige Dealerszene mit Gewalt verdrängt. „Die Kämpfe unter den Dealern waren ja erst nicht unser Problem oder das der Gäste. Aber dann haben die Neuen angefangen, in die Lokale zu gehen.“

 

24.4. Die taz kontert mit einer Liebeserklärung: „Kotti, mon amour. Das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg gilt derzeit als gefährlichster Ort Deutschlands. Aber er ist auch der schönste.“ Die taz fasst die tendenziöse Berichterstattung zusammen: „Der „Kotti“ wird in diesen Tagen als ein Ort der brutalistischen Architektur beschrieben, der eine brutalisierte Gesellschaft erzeugt. Von der Süddeutschen bis zum Nordkurier – überall wird über diesen Platz und die dortigen Verhältnisse (Überfälle, Drogen, Müll, Ratten) berichtet. Die Kriminalität sei so stark geworden, dass das Kottbusser Tor „zu kippen“ drohe. Schuld daran: antanzende „Nordafrikaner“.

 

1.5. Zum 1. Mai nix Neues: Der Kotti wird komplett abgeriegelt, die Straßen für Autos gesperrt. Um . 22.15 Uhr twittert Die Berliner Zeitung: „Für Berliner Verhältnisse war es heute friedlich. Meint auch die Polizei. Bereit stehende Wasserwerfer setzte die Polizei nicht ein. Rund um den 1. Mai waren in Berlin etwa 6200 Polizisten im Einsatz. Es gab allerdings vereinzelt Verletzte und Festnahmen.“

 

14.5. Ich sehe zum ersten Mal einen privaten Wachschutz mit Hunden patrouillieren. 

 

15.5. In Die Zeit ist die Rede von einer Entfremdung Hans-Christian Ströbeles von seinem Revier: dem Kottbusser Tor. Ströbele, der sein Büro nur wenige Meter hinter dem Kreuzberger Zentrum in der Dresdener Str. hat, kennt die Situation am Kotti, aber er sei einer derjenigen, die die Situation nicht dramatisieren und die Verwahrlosung nicht problematisieren wollen.

 

19.5. Die Polizei fährt mit einem Presse-Auto am Kotti vor und baut einen Info-Stand auf, führt Pressevertreter herum. Ich sehe keine Leute vor dem Stand, die sich informieren. 

 

Toilettenmisere

Am Kottbusser Damm, südlich vom Kottbusser Tor befindet sich eine City Toilette der Firma Wall. Es handelt sich um eine der ganz wenigen City-Toiletten in der Stadt, die statt 50 nur 20 Cent kosten. Doch auch das hilft ihr nicht: Während der einmonatigen Feldstudie ist das WC nur einmal frei, die restliche Zeit ist es außer Betrieb, wird gereinigt oder ist besetzt. Hier eine detaillierte Auflistung der Ergebnisse der Feldstudie:

 

26.4. 8:38 Uhr: Vor der City-Toilette steht ein Auto der Firma Wall. Ein Mitarbeiter kümmert sich um das Toiletten-Häuschen.

26.4. 15:11 Uhr: Das WC ist besetzt, eine Person wartet.

26.4. 19:49 Uhr: Das WC ist besetzt.

27.4. 9:52 Uhr: Das WC ist besetzt, zwei Personen warten.

27.4. 11:39 Uhr: Das WC ist frei.

30.4. 10:48 Uhr: Das WC ist außer Betrieb.

3.5. 10:55 Uhr: Das WC ist außer Betrieb. Die Tür steht auf, hinter der Kloschüssel ist die Innenverschalung herausgerissen.

3.5. 17:56 Das WC ist außer Betrieb. Die Tür steht einen Spalt weit offen.

6.5. 19:21 Uhr: Das WC ist besetzt.

6.5. 23:35 Uhr: Das WC wird gereinigt.

7.5. 13:58 Uhr: Das WC ist besetzt.

7.5. 19:16 Uhr: Das WC wird gereinigt.

8.5. 12:14 Uhr: Das WC wird gereinigt.

9.5. 21:35 Uhr: Das WC ist außer Betrieb. Die Tür steht einen Spalt weit offen.

10.5. 10:38 Uhr: Das WC ist außer Betrieb. Die Tür ist geschlossen.

11.5. 0:23 Uhr: Das WC ist außer Betrieb.

12.5. 17:23 Uhr: Das WC wird gereinigt.

19.5. 1:02 Uhr: Das WC ist außer Betrieb, die Tür steht einen Spalt breit auf.

19.5. 10:49 Uhr: Das WC ist außer Betrieb, die Tür steht einen Spalt breit auf. 

24.5. 10.45 Uhr: Das WC ist außer Betrieb, auf der Anzeige steht SERVICE.

 

Auf Anfrage erhalte ich von der Firma Wall folgende Erklärung: „Natürlich ist uns die Situation am Kottbusser Tor bekannt – für unsere Kollegen, die hier täglich im Einsatz sind, ist dies gleichermaßen eine sehr belastende und zugleich auch gefährliche Situation, aufgrund zurückgelassener Spritzen etc., an denen sie sich verletzen könnten. Alle Service-Mitarbeiter sind daher besonders dahingehend geschult (in regelmäßigen Wiederholungen) und sind entsprechend auch mit besonderer Schutzkleidung ausgestattet, damit sie hier gefahrlos arbeiten können.

Die dortige Toilettenanlage ist eine sogenannte City-Toilette, die sich nach jeder Benutzung selbstständig reinigt. Angesichts der lokalen besonderen Situation wird die Anlage aber täglich mehrmals zusätzlich durch Mitarbeiter von uns persönlich kontrolliert und gereinigt. Wir leisten hier bereits das Maximum, was uns an Personal- und Zeitaufwand möglich ist. Damit können wir die Erscheinungsform zwar zwischenzeitlich verbessern, aber das Grundproblem, sprich die Drogenproblematik, können wir natürlich nicht lösen.“

 

Drogenproblematik

Die Drogenproblematik ist für die Betreiber und Mitarbeiter der City-Toilette unmittelbar erfahrbar. Aber auch für die Kita in der Dresdener Straße, in dessen Eingang sich die Konsumenten gerne zurückziehen und an dem sie ihre Nachlässe zurücklassen. Oder für die Betreiber des Xara Beach, vor dessen Eingang regelmäßig campiert und gedealt wird. Auch wenn mir persönlich noch nie was passiert ist, obwohl ich fast täglich am Kotti vorbeikomme, kann ich verstehen, wie unangenehm es für die Gewerbetreibenden und alle anderen sein muss, täglich den betrunkenen oder sonst wie berauschten Menschen zu begegnen, vor allem weil sie so unberechenbar sind. Und tatsächlich wurde vor kurzem einer Freundin die Tasche aus dem Fahrradkorb gestohlen – beileibe kein Einzelfall, wie die Polizei ihr mitteilte.

Was am Kotti hinzu kommt: dass er „Verrückte“ anzieht, wie den obdachlosen Mann mit dem vollen Einkaufswagen, dessen Heimstatt die Bushaltestelle in der Ritterstraße ist und der oft unzusammenhängende Dinge in seine Umgebung schreit. Oder den Mann, der eine zeitlang auf dem schmalen Telefonzellendach Platz nahm um den Kotti als Speakers Corner zu nutzen.

 

Weil Kreuzberg schon immer die Heimat der Freaks und Andersdenkenden war und die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, zwischen psychisch Kranken, Drogenabhängigen und Dealern fließend sind, aber auch weil in Kreuzberg traditionell die „Bullen“ gerne außen vor gelassen werden, wurde die Szene jahrzehntelang geduldet. Nun werden Stimmen laut, die eine „Lösung“ für die Problematik wollen. Das gilt genauso für die Situation im Görlitzer Park, in dem trotz erhöhter Razzien unvermindert Drogen gedealt werden. Die ausgefeilte Infrastruktur, die sich hier entwickelt hat, kann durch die Polizei jedoch nur eingedämmt (bzw. unangenehm für die Dealer gemacht), aber nicht aufgelöst werden – auch weil die rechtliche Lage so ist wie sie ist. Die Hintermänner werden eh nicht belangt. Und: So lange es genug Nachfrage gibt im Partykiez, wird sich die Situation nicht ändern.

 

Offen bleibt die Frage, warum das Thema gerade jetzt so aufgebauscht wird – Berliner Wahlkampf und Post-Silvester-Aufregung hin oder her. Die Stimmung in Kreuzberg scheint sich zu verändern: die neue (akademische) Kreuzberger Mittelschicht (inklusive der erwachsen gewordenen Mitglieder der Jugendgang 36 Boys, die in den 80ern den Kotti unsicher machten) artikuliert sich stärker: sie hat keinen Bock mehr auf Toleranz. Hinzu kommen die steigenden Touristenzahlen und die Aufwertung der Oranienstraße zum Shopping- und Einkaufsparadies. Die Betreiber des Café Luzia in der Oranienstraße bringen die Veränderung in ihrer Begründung für die Schließung ihrer Bar während des 1. Mai auf den Punkt: Aus einem „multikulturellen und multisexuellen Straßenfest mit politischen Visionen“ habe sich ein „kommerzielles Fest des Konsums“ entwickelt. Die Zukunft des Kotti als Hotspot des Aufeinandertreffens von Heterogenem scheint ungewiss.

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