Living the City. Von Städten, Menschen und Geschichten

Living the City. Von Städten, Menschen und Geschichten

Eine Ausstellung über das Stadtmachen
Lukas Feireiss, Tatjana Schneider, TheGreenEyl
Im Grunde genommen lässt sich von Stadt allgemein nicht vernünftig sprechen. Zu verschieden sind die Wirklichkeiten, die sich hinter diesem Begriff verbergen. Eins lässt sich jedoch feststellen: Stadt in all ihrer Diversität stellt ein besonderes Phänomen und zutiefst menschliches Konstrukt dar. Seit Anbeginn spiegeln sich dabei in der Vielfalt der städtischen Lebensräume die kulturellen Leistungen der Menschen ebenso wie gesellschaftliche Problemlagen. Städte sind nicht nur Konstrukte aus Stein, Beton und Holz, sondern auch komplexe Zeichensysteme, die Auskunft über Lebensverhältnisse und Zeitgeist geben. Sie sind Ausdruck der Ideen und Überzeugungen, Lebensweisen und Wünsche, Ängste und Träume der Menschen, die in ihr wohnten und wohnen.          
  
Unter dem Titel Living the City unternehmen wir den Versuch, eine Vielzahl von Geschichte(n) zu erzählen, die vom Stadtmachen selbst sprechen und den Lebensraum Stadt sowie die Möglichkeiten einer integrierten Stadtentwicklung einer breiten Öffentlichkeit anschaulich und lebendig aufzeigen wollen.
Um Stadt in all ihrer Vielfalt, Komplexität und Widersprüchlichkeit zu vermitteln, wird in der Ausstellung sowie der begleitenden Publikation bewusst von einer vereinheitlichten und vereinfachenden Erzählung abgesehen. So versammeln wir zwar Geschichten aus dem europäischen Raum, nehmen aber bewusst Abstand von der europäischen Stadt. Die Entkoppelung von diesem Konstrukt erlaubt, den Fokus zu verschieben. Wir bewegen uns damit weg von einem Fokus auf territoriale Kategorien und hin zu den größeren Herausforderungen für das Stadtmachen, die über politische Grenzen hinaus von Bedeutung sind. Städte fassen diese Geschichte(n), fangen sie ein und bündeln sie. Dieses Neben- und Übereinander unterschiedlichster Geschichten, die Gleichzeitigkeit und die Widersprüche sind dabei untrennbar miteinander verknüpft, auch wenn sich Erlebnisse verschiedener Gruppen ganz fundamental voneinander unterscheiden. Ob alt oder jung, zugezogen oder schon immer an einem Ort sesshaft gewesen—niemand erfährt Stadt gleich. Wie in einem großen Netz sind alle miteinander verbunden, Schicksale miteinander verknüpft. Zieht jemand an einer Seite, hat dies Konsequenzen für andere im System. Dieses Ziehen und Verschieben bringt Veränderungen, bringt Aktivitäten, die sich in die physischen und gedanklichen Räume der Stadt einschreiben. Sie werden zu Geschichte(n). Es sind diese Erzählungen vom Stadtmachen—den Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und Konsequenzen—die wir anhand unterschiedlichster Projekte aus Architektur, Kunst und Stadtplanung teilen möchten. Gerade in diesem Neben- und Miteinander verschiedenster Ansätze und Disziplinen entsteht ganz bewußt eine narrative Multiperspektivität von Stadt. Dabei geht es uns nicht nur um das Aufzeigen von Prozessen und Handlungsmöglichkeiten für ein aktives und solidarisches Gestalten von Stadt. Im Diskutieren der Zusammenhänge zwischen gebauten Räumen und Menschen, Zivilgesellschaft und Politik, Ökonomie und Natur sollen Fragen an die Stadt und an die nach wie vor dominanten Stadt-Machenden gestellt werden, um Anregungen zu geben, wie Stadt neu gedacht und verhandelt werden könnte.

Dabei haben wir uns einem narrativen und multiperspektivischen Vermittlungsansatz verschrieben, welcher verschiedenste Beispiele und Geschichten nutzt, um Städte und die aktive Teilnahme und Teilhabe an der Gestaltung von Stadtraum zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Diese Stimmen erscheinen manchmal ganz direkt und laut. Manchmal sind sie leiser. So stehen O-Töne neben allgemeineren Texten, und akademische Stimmen vermischen sich mit stadtpolitischen Stellungnahmen. Ganz konkrete lokale Wünsche, Sorgen oder Hoffnungen treffen auf globale Entwicklungen und Veränderungen. Durch diese unterschiedlichen Stimmen erzeugen wir eine Polyphonie, die die miteinander verwobenen, aber zum Teil auch widersprechenden Positionen aufnehmen will. Themen der Nachhaltigkeit, der digitalen oder der gerechten Stadt können zwar stets an greifbaren Orten und Situationen verhandelt und diskutiert werden, doch größere Zusammenhänge und Diskussionen bleiben dabei manchmal auf der Strecke. Und so entwickeln sich Ausstellung und Publikation mit über 50 Projekten von mehr als 70 Teilnehmenden aus dem europäischen Raum (und über dessen Grenzen hinaus) um emotional wie poetisch aufgeladene Geschichten, die Fragen—keine Antworten—an acht ganz grundlegenden Tätigkeiten wie Lieben, Leben, Machen, Teilnehmen, Lernen, Spielen, Bewegen und Träumen in der Stadt stellen. Diese Themenbereiche sind dabei weniger als statische Kategorisierungen zu begreifen, sondern dienen vielmehr als offene Orientierungshilfen. Sie grenzen die Projekte voneinander ab, zugleich sind sie jedoch grundsätzlich durchlässig und laden sogar zum wechselseitigen Austausch ein.

So unterschiedlich die hier vorgestellten Geschichten auch sein mögen, sind sie allesamt Geschichten, die bewegen, berühren und zum Weiterdenken bewegen sollen. Und so hoffen wir, dass diese Geschichten von Prozessen und Projekten an andere Orte getragen werden, wo sie weiter diskutiert und verhandelt werden können.
In der Ausstellung Living the City verschmelzen diese Geschichten, Themen und Ideen, Bauten und Prozessen in einer Stadtlandschaftscollage. Unterschiedliche urbane Raumtypologien—wie Plätze, Türme und Straßen—werden spielerisch aufgegriffen und formal-ästhetisch in einer großflächigen Raumskulptur zitiert. Gleich der menschlichen Erfahrung von Raum und Stadt lässt sich dabei die Ausstellung nie in Gänze erfassen oder systematisch abarbeiten. Eine lineare und pädagogische Erzählweise wurde bewusst vermieden. Gleich der individuellen Zusammenschau der einzelnen Elemente beim Betrachten einer Collage geht es auch hier um die assoziativen Freiräume in der Rezeption der Ausstellung im Allgemeinen und der einzelnen Projekte im Besonderen. All das wird ergänzt durch weitere Elemente: ein öffentliches Programm aus Vorträgen, Filmvorführungen, Workshops, Performances, temporären Ateliers, einem Online-Radio und einem internationalen Symposium mit Architektur- und Kunstschaffenden, Stadtplanenden, politisch aktiven Menschen und Menschen aus der Politik, Medienschaffenden, Philosophinnen und Philosophen sowie Fachforschenden, die über die räumliche und erzählerische Landschaft hinaus diese unterschiedlichen Ebenen, Bestrebungen und Erfahrungen auf andere Weise erlebbar machen.

Die Erzählungen in Living the City entwickeln sich als Landschaften, deren Lagen und Ordnungen, Beschaffenheiten und Systeme mal mehr und mal weniger detailliert zum Vorschein kommen. Es finden sich Auseinandersetzungen mit zivilgesellschaftlichen Kämpfen neben Dokumentationen von einzelnen Akteurinnen und Akteuren, die Privatisierung, Gentrifizierung und andere Verdrängungsprozesse zum Teil spielerisch oder ganz flüchtig in Frage stellen. Exemplarisch sind die Projekte zu verstehen, aber sicher nicht als Best Practice. Vielmehr bildet sich hier ab, wie umstritten, wie umkämpft das Machen von Stadt, die Produktion von Raum in den letzten Jahren geworden ist. So wollen wir vor allem zum Nachdenken anregen und zu einer lebendigen Diskussion über Stadtentwicklung anregen. Wer fertige Antworten oder Instrumente und Toolboxes sucht, wird hier nicht fündig. Stattdessen steht hier Ambiguität neben Vielfalt, Vertrautes neben Fremdem. So mag unser Blick, an einigen Stellen verklärt und an anderen Stellen kritisch oder wertend erscheinen. Doch ganz gleich, welche Fragen uns umtreiben, immer ist der Blick auf Herausforderungen, Pflichten und Verantwortungen heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, gerichtet. Wir hoffen, dass die Besuchenden der Ausstellung ebenso wie die Lesenden dieser Publikation ihre eigene Sicht auf Stadt und Raum schärfen, häufiger und vehementer auf Antworten zu solchen und ähnlichen Fragen beharren: Wer baut was und wo? Wer hat und wer hat keinen Zugang zu den Infrastrukturen und Angeboten der Stadt? Wie und von wem wird die Zukunft gestaltet? Mehr noch hoffen wir allerdings, dass sich jede und jeder selbst als Teil der Geschichte und den möglichen Geschichten der Stadt erkennt und neue, zukunftsfähige Erzählstränge eigenständig und zusammen mit anderen formuliert.

Der von den Kurator*innen der Ausstellung verfasste Text ist eine gekürzte Version des Einleitungstextes des Kataloges, der bei Specor Books erschienen ist. Die Ausstellungsdauer im Tempelhofer Flughafen ist ursprünglich bis zum 20.12.2020 geplant gewesen, über aktuelle Änderungen informiert die Website.

Fotos: Ausstellungsansicht Übersicht: Schnepp Renou; Ausstellungsansichtscollagen; Jörg Brüggemann OSTKREUZ
Kurzbeiträge

Einwürfe

Nolli lesen Kathrin Wildner und Dagmar Pelger sprechen darüber, wie man Karten liest
Die Mission. Kunst gegen Kälte 1997–2022 Anna Ulmer guckt im Gespräch mit Rudolf Goerke zurück auf die Obdachloseninitiave "Die Mission" in Hamburg
Spaces of Solidarity Der Kiosk of Solidarity macht Station in einer Ausstellung im Deutschen Architektur Zentrum

Fundsachen

OZ in Erinnerung Für „OZ: in memoriam“ hat sich Mary Limo
The Black Triangle 360 schwarze Dreiecke in Wien dokumentiert von Peter Schreiner

Straßenszenen

Zu Gast im 24. Stock Zu Gast bei Algisa Peschel, Stadtplanerin und eine der Erstbewohnerinnen des DDR-Wohnkomplexes in der Berliner Leipziger Straße
10 Tage Jerevan Notizen ihres 10-tägigen Aufenthalts von Anna-Lena Wenzel
Glitches GLITCHES ist die Bezeichnung für eine Re

So klingt

So lebt

(e) es sich im Vertragsarbeiterheim in der Gehrenseestraße Im Februar 2023 lud ein Kollektiv[1] ein
man an der spanischen Touristikküste Architektur- und Reiseeindrücke von 2023/24 von Benjamin Renter, der an der spanischen Mittelmeerküste den Einfall der Investitionsarchitektur festgehalten hat.
es sich 20 Tage im Grenzturm Im Herbst 2019 hatten Kirstin Burckhardt