Kontinuitäten

Kontinuitäten

Besitzerwechsel und Mieterproteste in der Oranienstraße seit 1849 - Ausgrabungen aus Archiven
Michael Blum
1849
Berlin.
Die Orangenstraße
Wird
Die Oranienstraße.
 
1856
Idyllische Landschaft:
Die Luisenstadt ist noch sehr landwirtschaftlich
Und besteht größtenteils aus Gärten und Feldern.
Der Besitzer der Grundstücke Oranienstraße 10 und 11
Ist ein Herr Schneider, Gärtner.
 
1863
Bauboom in der Luisenstadt,
Raum wird geschaffen.
Wo gestern noch Land war,
Wird heute die Stadt hektisch gebaut.
 
Bald geht das Haus Nr. 10 an Herr Pfeiffer, Schlächtermeister,
Sowohl das Haus Nr. 11 an Herr Fetter, Bäcker.
Beide Herren,
Die ihr Geld mit Lebensmitteln verdient haben,
Bleiben die Eigentümer bis zum Grab,
40 Jahre später.
 
Die Wohnungssituation ist katastrophal:
Große Zuwanderung,
Enormes Anwachsen der Bevölkerung;
Niedriges Angebot,
Starke Nachfrage,
Unersättliche Hausbesitzer.
Mieten unverschämt teuer,
Bedingungen mittelalterlich,
Wohnungsfeudalismus in vollem Gange.
In 1863 wechseln 49.6 % aller Berliner ihre Wohnung.
(Quelle: Kurt Wernicke, 1995)
Diese Lage führt Anfang Juli zu Mieterprotesten:
Alles fängt mit der Exmittierung des Gastwirts Schulze an,
Eines gescheiterten Buchbinders,
Oranienstraße 64,
Weil er einen eisernen Ofen ohne Erlaubnis installiert habe.
Proteste führen zu mehr Protesten,
Und in drei Tagen Widerstand, Unruhen, Turbulenz, Tumult,
Aufruhr, Krawall, Randale, Plünderungen,
Feuer, Wut und Zerstörung
 
Um Moritzplatz und Prinzenstraße,
Sind 10 000 Menschen involviert -
90 % aber als Zuschauer -
200 verhaftet,
400 festgehalten.
Viele sind Handwerker, die die Luisenstadt gerade bauen -
Maurer-, Zimmerer-, Tischlergesellen,
Steinträger, Handleger,
Doch auch Studenten und Postbeamte,
Sogar Angestellte und Kaufleute.
Die Moritz-Platz Krawalle hören am Sonntag auf,
Wegen Drohung der Polizei mit Militäreinsatz,
Starken Regens
Und Ruhetag.
 
1903
In der Oranienstraße
Sind jetzt die Handwerker der 1870er,
Dampfschleifer, Feilenhauer, Hammertopfmacher,
Von Kleinbetrieben,
Druckereien und Drehereien,
Ersetzt.
 
1907
Beide Grundstücke und Häuser,
Oranienstraße 10 und 11,
Werden verkauft.
Der neue Eigentümer,
Gustav Schoder, Juwelier,
Wohnhaft Oranienstraße 155,
Agiert als Unternehmer:
Er lässt beide Grundstücke,
Die fortan gemeinsam verwaltet werden,
Zusammenlegen.
 
Es wird wieder verkauft,
Mit substanziellem Gewinn,
An Herrn Johann Fiehn,
Regierungsbaumeister aus Königsberg,
Wohnsitz Suarez Straße 26 in Charlottenburg,
Der die größte Instandsetzung seit dem Bau durchführen lässt:
Absenken der Fundamente und Umbau der Wohngebäude
(Bis jetzt war das EG fünf Stufen hoch,
Ab jetzt auf Straßenebene;
Daher wird das Souterrain Keller),
Neubau eines Fabrikgebäudes,
Bau eines direkt elektrischen Personen- und Lastaufzuges,
Tragkraft 750 kg.,
Aufstellung zweier Niederdruck-Dampfkessel
Für die Heizungs-Anlage des Fabrikgebäudes,
Zweier Warmwasser-Heizkessel
Für die Heizung des Vordergebäudes
Und eines Warmwasserbereitungskessels
Für das Vordergebäude.
Sowie Anlage eines Abortes
Im rechten Seitenflügel des Erdgeschosses.
 
1918
Ein neuer Mieter zieht in das Fabrikgebäude ein:
Die Tabak- und Zigarettenfabrik Dreibund Ararad.
Eigentümer sind Fabrikant Ertchan Manucjan,
Fabrikant Narbé Manucjan
Und Fabrikant Waghinak Muradian aus Köln.
 
1927
Die Mieten steigen rasant
Und die Wohnungssituation ist weiterhin katastrophal:
In Berlin fehlen nun 250 000 Wohnungen,
Und viele der existierenden Mietskasernen
Sind menschenunwürdig.
Regierungen bemühen sich -
Mietpreisbindung, Hauszinssteuer, Sozialer Wohnungsbau -
Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter
Zu verbessern,
Das Elend,
Und damit den revolutionären Impuls der Bevölkerung,
Zu beseitigen.
Doch Licht, Luft und Sonne erreichen die Oranienstraße nicht.
 
1930
Die Preußische Bodenkreditbank stirbt.
Sie wird von der Pfandbriefbank übernommen,
Die sofort in Deutsche Centralbodenkredit-AG umbenannt wird.
 
1937
Mehr oder weniger alle Juden,
Die über genügend Mittel verfügen,
Haben Deutschland verlassen;
Die anderen sind untergetaucht.
 
1945
Alle Berliner kennen die Geschichte des 3. Februar:
2022.2 Tonnen Sprengbomben,
224.5 Tonnen Brandbomben,
Totales Inferno, totale Zerstörung.
Die Oranienstraße wird
Im Westen schwer beschädigt,
Komplett ruiniert,
Im Osten aber kaum,
Weil lokalen Ziele westlich liegen.
 
In den Blöcken 103,
Zwischen Oranien-, Mariannen-, Naunyn- und Manteuffelstraße,
Und 104,
Zwischen Oranien-, Skalitzer, Mariannenstr. und Heinrich-Platz,
Sind nur die Gebäude in unmittelbarer Nähe der Skalitzer Straße
Zerstört worden:
Oranienstraße 1 und 2 im Block 103,
Oranienstraße 205-207 - die Spitze - im Block 104.
Diese beiden Lücken werden nie wieder aufgebaut.
Alle andere Häuser haben es
Mehr oder weniger ohne Schäden
Überstanden.
 
1959
Dreibund Ararad hört seine Produktion auf
Und schließt die Tabakfabrik in der Oranienstraße.
 
Firma Terra-Klischee,
Inhaber R. Grosse,
Ist seit Schließung Dreibund Ararads
Der Hauptmieter in der Oranienstraße 10/11,
Wo sie das Grafik- und Fotostudio von Thedran & Kraushaar
Übernommen hat.
 
1967
Die Kahlschlagsanierung,
Der Abriss der Altbausubstanz ungeachtet ihres Zustandes
Und Neubau des Gebietes Kreuzberg - Kottbusser Tor
Ist in vollem Gange.
Die Sanierung betrifft 107 ha.,
37 000 Bewohner in 17 000 Wohnungen
Und 20 000 Beschäftigte in 2000 Betrieben.
 
Der West-Berliner Senat plant,
Die Oranienstraße mit einer Autobahn zu ersetzen;
Am Oranienplatz soll ein Autobahnkreuz entstehen.
 
Oranienstraße 10/11,
Wie alle anderen umliegenden Gebäude,
Wartet geduldig auf seine Zerstörung.
 
1972
Oranienstraße 10/11 wird von der GSG erworben.
Die in 1965 vom West-Berliner Senat begründete
Gewerbesiedlungs-Gesellschaft
Soll kleine Unternehmen mit günstigen Gewerberäumen fördern.
 
1981
Die meisten Altbaufassaden sind so schwarz,
Dass man sie nicht unterscheiden kann.
Die Besetzerbewegung wird ernst:
165 Häuser sind gleichzeitig besetzt,
300 insgesamt.
 
„Rettet die Oranienstraße vor Abriss und Sanierungspsychose!
Wir wollen nicht mehr Betonsilos --
Wir wollen unsere Wohnungen, Läden und Betriebe in anständigen
Zustand und an vertretbaren Mieten behalten!
Wir wollen hier nicht fort.
Warum verkriechen sich die Parteien, Verwaltung und sogenannte
Sanierungsträger?
Dies ist keine ‚rote‘ propaganda.“
(Quelle: Plakat)
 
1987
Berlin ist 750 und feiert,
Kreuzberg ist 67 und protestiert
Gegen die Aufhebung der Mietpreisbindung.
Die Oranienstraße 198 wird von der Polizei geräumt
Oder offizialisiert, je nach Quellen.
Höchstwahrscheinlich wird das besetzte Haus geräumt
Und später mit Verträgen weiter bewohnt.
 
2007
Die GSG gleitet von öffentlichen zu privaten Interessen:
Das Land Berlin verkäuft seine Anteile an die Orco Property Group
In Zusammenarbeit mit Morgan Stanley Real Estate.
Von günstigen Gewerberäumen ist nicht mehr die Rede.
 
2010
Die Kreuzberger Mischung
Wird jetzt als Mehrwertquelle für Investoren gelobt.
Neuberliner ersetzen Altberliner,
Werbeagenturen ersetzen Künstlerstudios,
Vegane Burgerrestaurants und Yoga-Studios
Ersetzen Werkstätten und Fabriken.
 
2018
Die Oranienstraße hat sich beruhigt,
Stark gentrifiziert ist sie zum touristischen Magnet geworden,
Obwohl sie weiterhin leicht punkig und ungezähmt bleibt.
Graffitis und Pissgeruch
Als irreführende Zeichen der Authentizität.
 
Der Quadratmeter ist so teuer geworden -
+ 71 % zwischen 2016 und 2017 in Kreuzberg
(Quelle: Knight Frank, Global Real Estate Consultants) -
Dass leer nur ein temporärer Zustand sein kann.

Alle Zitate stammen aus Michael Blums Buch Ausgrabungen. Eine Verschronik, erschienen im Klak Verlag,  Berlin 2019.
Das Foto von Michael Blum stammt von Kerem Üzgün Zaman.
 
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