Mitte Juni (New Orleans)

Mitte Juni (New Orleans)

Bilder und Text: Ayumi Rahn
Gibt es den Mississippi River wirklich wirklich? Oder gibt es ihn gar nicht wirklich? Würde man mir erklären, der Mississippi River sei in Wirklichkeit erfunden worden wie Dornröschen, nur zu dem Zweck, eine Geschichte zu erzählen, in seinem Fall eine Geschichte von außerordentlicher Dimension, ich würde nicht daran zweifeln. Es gibt ihn gar nicht wirklich, den Mississippi River. Nur ein Wort, gerade erst ausgedacht. Eine Bestätigung, dass man nichts weiß und nichts versteht, weil man sicher nicht nah genug herangekommen ist und herankommen wird, und niemals alles fassen kann. So irgendwie.

Mitte Juni sitzen wir auf den Stufen und schauen hinunter auf das Wasser des Mississippi Rivers zu unseren Füßen. Ein paar hundert Meter weiter pfeift ein Dampfschiff aus vollem Dampfkessel eine schunkelnd heisere Melodie, während Touristen für die Abendrundfahrt Schlange stehen. 
The Moon Walk, so heißt die große Promenade entlang des Mississippi. Hier lässt man an Mardi Gras, Faschingsdienstag, die Asche Verstorbener zu Wasser, vermischt mit Glitzer. Während sich die Asche unmittelbar im Fluss verliert, sieht man den Glitzer noch eine Weile an der Wasseroberfläche treiben. A new birth of sorts. Breite Stufen führen hinab zum Fluss, der schwappt ihnen mit schweren Wellen entgegen. So schwerfällig, eher wie ein Meer, so ein großer Fluss.
Dass New Orleans erbaut werden muss, stand fest von Anfang an. An die Mündung eines so großen Flusses, an den Eingang eines so großen Landes, gehört eine große Stadt, eine Metropole. Zunächst nur musste Sumpf zu Land gemacht werden, was man alles macht! Sumpfgebiete werden entwässert, dann die Stadt darauf erbaut. Noch immer und ununterbrochen pumpen riesige Pumpen unermüdlich Wasser aus den Sümpfen, auf denen nun die Stadt steht. Sonst würde sich die Stadt mit Wasser vollsaugen wie ein Schwamm. Was für eine Leistung! 
Sumpflandschaft funktioniert als eine natürliche Bremse für Hurrikans. Wenn sie über Sumpf fegen, verlieren sie an Wucht. Ohne Sumpf, keine Bremse.
2005. Das Lower von Lower Ninth Ward, einem Stadtteil von New Orleans, ist das gleiche lower wie von Lower Manhattan, im Gegensatz zu Upper Manhattan. Es wird häufig missverstanden, dass der Lower Ninth Ward noch tiefer unter dem Meeresspiegel liegt als übrige Teile der Stadt, jedoch bezeichnet er lediglich die Gegend südlich des Ninth Ward.
Der Lower Ninth Ward ist von den Verwüstungen in Folge des Hurrikan Katrina 2005 mit am schlimmsten betroffen. Amsterdam, das wie New Orleans unter Sea-level liegt, ist durch einen Damm vor Überflutung geschützt. Aber was hilft ein Damm, wenn er auf Schlamm steht? Gegen mehrfaches ingenieurtechnisches Versagen hilft am Ende gar nichts.
2005, in Folge von Katrina, bricht der Damm an mehreren Stellen. Anstatt 17 Meter tief, wie es erforderlich gewesen wäre, war er kaum im Boden verankert. Er wird unterspült und weggeschwemmt. Zwischen 1100 und 1800 Menschen sterben 2005 in New Orleans in Folge von Katrina. Über die Anzahl der Toten ist man sich bis heute nicht einig.

Viel läuft schief 2005, wenn nicht alles. Um die 20 000 Menschen, die sich vor dem Sturm im Super Dome in Sicherheit bringen, warten dort unter unmenschlichen Bedingungen auf Hilfe. Es kommt keine. Sie warten rund eine Woche. Letztendlich kommen Busse, in die sie gesetzt werden, und die sie irgendwohin bringen, was konkret bedeutet: die Menschen im Bus haben keine Ahnung, wohin der Bus sie bringt. Baton Rouge, Atlanta, Dallas, Denver, New York? Die Einwohner von New Orleans, US-amerikanische Staatsbürger, werden als sogenannte Flüchtlinge quer über das Land verteilt, Familien werden auseinandergerissen. 
In dem Chaos, das einige Jahre andauert, sehen verschiedene, vornehmlich weiße, Interessengruppen ihre Chance, an Einfluss zu gewinnen und die Rückkehr der als Flüchtlinge über das Land verstreuten Bürger zu verhindern: „Der Lower Ninth Ward liegt so niedrig, niedriger als der Rest der Stadt, da ist es nur vernünftig, den nicht wiederaufzubauen“, heißt es. Und man fragt sich: „Vielleicht hat Gott den Sturm für New Orleans herbeigerufen, so dass die Stadt wieder auferstehe, jedoch in Weiß.“
Häuser werden abgerissen, auch Häuser, die gar keine gravierenden Schäden davongetragen haben. Mieter von Sozialwohnungen im Innenstadtbereich werden von ihren Wohnbezirken ausgesperrt, die sogenannten Public Housing Projects werden von privaten Immobiliengesellschaften abgerissen. Über 99 Prozent der betroffenen Bewohner sind AfroamerikanerInnen, unter ihnen vor allem alleinerziehende Mütter, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen. 

Als die halbe Stadt in Trümmern liegt, überflutet von schmutzigem Wasser, unmittelbar nach dem Sturm, zieht eine Gruppe von Menschen durch die zerstörten Straßen, auf Suche nach Unterschlupf, nach Hilfe, wahrscheinlich auch nach Trinkwasser. Es herrscht eine Hitze von fast vierzig Grad Celsius. Hier und da treffen sie auf überforderte Polizeibeamte. Hier und da treffen sie auf hilflose Menschen, die sich ihnen anschließen, um gemeinsam einen Weg hinaus zu finden, aus der zerstörten Stadt. Schließlich wird ihnen gesagt, sie sollen den Fluss überqueren. Auf der anderen Seite des Mississippi River, dort in Gretna, dort warten Busse, die bringen euch in Sicherheit. 
Die Gruppe, es sind über hundert Menschen, darunter auch alte Menschen, Leute im Rollstuhl und Kinder, schleppt sich in der Hitze über den Asphalt der 4-spurigen Autobrücke, der Crescent City Connection. Von weitem sehen sie Polizeibeamte, offensichtlich werden sie erwartet. Als sie in Hörweite sind, hören sie die bewaffneten Polizisten rufen: Bleibt wo ihr seid, keinen Schritt näher, oder wir schießen. Die Menschen meinen, sie hätten sich verhört. Sie kommen näher. Kehrt um, oder wir schießen, brüllt die Polizei der Stadt Gretna am Mississippi, gegenüber von New Orleans, den Einwohnern von New Orleans entgegen. Dann feuern sie Schüsse in die Luft. Die Gruppe kehrt um: „Wir dachten wirklich, jetzt erschießen sie uns.“
Wir haben für die Sicherheit der Stadt Gretna gehandelt. Wir können nicht einfach jeden in unsere Stadt lassen, erklärt die Polizei später. Die Bedrohung war eine Gruppe von Menschen, die aus der zerstörten Nachbarstadt fliehen, zu 95% Schwarze. ‚We‘re not having black people coming into our neighborhood.‘, so verstand es zumindest Larry Bradshaw aus der Gruppe der Fliehenden.

Wir machen eine Sumpftour. Der Sumpf wird hier Bayou genannt. Ein kleines Boot, leiser Motor, wer weiß, vielleicht sehen wir sogar einen Alligator? Hier wimmelt es von Alligatoren.
Der Wasserpegel im Bayou ist niedrig. An den Stämmen der Mangroven kann man unterschiedliche Wasserstände ablesen. In New Orleans hängen überall, von allen Laternenpfählen und Bäumen, bunte Plastikperlen. Mardi Gras Beads. Hier hängt von den Ästen das Spanish Moss. Auf Fotos sieht es modrig feucht aus, wie Moos, ist es aber nicht, es ist eher trocken, wie eine Art Flechten. Girlanden.
Im Bayou ist es laut: Zirpen, rascheln, pfeifen. Es fängt bald an zu regnen. Die Hurrikan Season hat Anfang Juni begonnen. Immer wieder, hier und da, hinter der nächsten Flussbiegung, sehen wir kleine Hütten auf Stelzen. Manche schwimmen und steigen mit dem Wasser, andere werden wohl bald untergehen, halten nur eine Saison, solange, bis ein Sturm kommt oder das Wasser steigt. Wer lebt hier wohl? Die Hütten sind kaum größer als Campingwägen. Die meisten haben eine kleine Veranda, mit Schaukelstuhl.
An der nächsten Flussbiegung eine Sandbank. Spielzeug liegt verstreut im Sand. Was? Ich dachte, es wimmelt hier von Alligatoren? Spielen hier Kinder im Sand am Wasser? 
Auf dem Wasser, das im Bayou bewegungslos steht, eine Wasseroberfläche wie Quecksilber, sitzen unendlich viele kleine Fliegen. Ganze Staaten von winzigen Fliegen, sitzen mit ihrem Fliegengewicht auf der Wasseroberfläche. Und die Wasseroberfläche bewegt sich kein bisschen.
Sobald wir näherkommen, entstehen winzige Wellen, die von dem Boot aus den Fliegen entgegen rollen. Da geraten sie in Panik und setzten sich in eine fliehende Bewegung, als ob immer die jeweils hinterste der Millionen Fliegen an die vorderste Stelle wechselt. Und dann die nächstletzte ganz nach vorne wechselt, und immer so weiter. In einer Geschwindigkeit, dass ihre Panik einer ausgefeilten Choreografie gleicht, die wir mit unserem Boot in Gang setzen.

Als wir wieder im Auto sitzen, fängt es an zu regnen. Erst regnet es, dann schüttet es. Wie in Wellen peitscht das Wasser über die Windschutzscheibe.
Wir fahren über die Interstate 10, die einige Kilometer lang über Brücken, See und Sumpf führt. Würden wir die Interstate 10 bis zum Ende geradeaus fahren, kämen wir an in Los Angeles. Das Wasser peitscht über die Scheiben. Die Straße steht unter Wasser. Was für ein WELTUNTERGANG. Da hört es wieder auf.
Die Mississippi River Road führt direkt entlang am Mississippi River, den man nicht sieht, weil er sich hinter einem größeren Graswall befindet. Hier lebten vor einiger Zeit die reichsten Einwohner der USA. Ein Plan zeigt es wie im Katasteramt: Streifen an Streifen an Streifen. Plantage an Plantage wurde hier Zuckerrohr angebaut.
Ernte und Verarbeitung von Zuckerrohr sind besonders qualvoll, denn die Blätter sind hart und scharf und schneiden in die Haut wie Rasierklingen.

Ein deutscher Einwanderer namens Ambroise Heidel gründete 1721 die Whitney Plantation. Ihren Namen hat sie von einem späteren Besitzer, der sie nach der Zeit des Sklavenhandels betrieb. Der heutige Besitzer, John Cummings, ein Rechtsanwalt aus New Orleans, schuf aus der Plantage das Freilichtmuseum und die Gedenkstätte, den sogenannten Whitney Plantation Historic District.
Auf einer “Wall of Honor” sind Namen von 2200 Kindern eingraviert, die auf der Whitney und in den angrenzenden Gemeinden zu Tode gekommen sind. Ein erwachsener Mann überlebte im Durchschnitt etwa 7 Jahre Plantagenarbeit. Frauen lebten länger. Frauen waren teurer, wertvoller als gesunde, kräftige Männer, die für die Arbeit aufgebraucht wurden. Aus den Frauen ließ sich neue Arbeitskraft züchten. Zwei Menschen wurden eingesperrt in einen Käfig, solange, bis die Frau schwanger war. Käfige, Gefängnisblöcke aus Metall, in denen es in der Hitze unerträglich heiß gewesen sein muss. Neues Leben, mehr Kapital. Ungeborenes Leben, wertvoller Besitz. Die containergroßen Käfige wurden in Philadelphia gefertigt. Das ganze Land war beteiligt, nicht der Süden allein. Im Süden hat das Schmutzige stattgefunden, das menschenverachtende, menschenvernichtende, das, wo der Rest des Landes lieber weggesehen hat, aber hier wohnten die meisten Millionäre.

Vor der Zeit des Sklavenhandels war die USA ein untergeordneter Handelspartner der europäischen Großmächte, nach der Zeit des Sklavenhandels eine wirtschaftliche Supermacht.
Auf dem Whitney Plantation Historic District, stehen zu Gedenken der Opfer schwarze Mamorstelen mit eingravierten Namen. Ein Name, nach dem anderen. Namen von Menschen, die hier versklavt lebten. Bodies, die allein dazu dienten, das Kapital ihres Besitzers zu vermehren. Je nach Gesundheit, Geschlecht und Arbeitskraft, Gebärfähigkeit, Zeugungkraft, wertvoll oder wertlos. Ein Marmorblock wurde absichtlich leer gelassen. Er steht für all jene, die namenlos geblieben sind. Eine große, leere Fläche. 
Irgendwo auf dem Gelände hängt der Gong, der Beginn und Ende der täglichen Sklavenarbeit markierte. Eine Messingscheibe mit einem schweren Klöppel. Wir werden eingeladen, ihn zu schlagen und den Opfern zu gedenken, denen, die umgekommen sind, und denen, die überlebt haben. Er schlägt schwer und dunkel und hallt lange nach. Es ist heiß und feucht, vor allem ist es still.

 Es fängt wieder an zu regnen. Unser Guide sagt, es sei wirklich wichtig, das weiterzuerzählen. Es sei nicht vorbei. The half has never been told. Sklaverei und Unterdrückung sind nicht vergangen, es ist nicht vorbei.
In keinem Land sind so viele Einwohner im Gefängnis wie in den USA. 25% der weltweit inhaftierten Menschen sitzen in einem US-amerikanischen Gefängnis. Während bei US-Bürgern auf 100.000 Personen weißer Hautfarbe 478 Gefängnisinsassen kommen, beläuft sich diese Zahl bei Bürgern schwarzer Hautfarbe auf 3.023.
Von gut 35 000 Museen in den USA ist der Whitney Plantation Historic District das einzige, das sich ausschließlich mit der Geschichte der versklavten Plantagenbewohner befasst.

Der Jean Lafitte National Historical Park and Preserve liegt südlich von New Orleans. Auf Planken kann man mitten durch den Sumpf wandern. Wir sehen Schwärme von Libellen, riesengroße Heuschrecken und zwei Alligatoren. Später kommen wir mit einem Ranger ins Gespräch. 
Unvermittelt fängt er an zu erzählen: Seine Vorfahren sind aus Europa gekommen. Seine Vorfahren ließen sich im Norden der USA nieder. Seine Vorfahren haben Ureinwohner weder vertrieben noch ermordet, wohl aber haben sie davon profitiert, dass es andere taten. Als Schiffe tonnenweise Baumwolle von den Plantagen den Mississippi hinauf in den Norden brachten, konnten Passagiere nahezu gratis auf den leeren Schiffen hinunter in den Süden reisen, so zogen seine Vorfahren weiter. Er sagt: Meine Vorfahren haben nie mit Sklaven gehandelt, noch haben sie Sklaven gehalten, aber wieder: sie haben davon profitiert, dass es andere taten.
Wovon profitieren wir?

 Und um uns herum sehen wir das Wasser, eine Wasseroberfläche wie Quecksilber, die Mücken auf der Wasseroberfläche, den Bayou, Hütten auf Stelzen, mit Veranda und Schaukelstuhl, Glitzer, Perlen, Mardi Gras Beads, mud, mold, Spanish Moss, riesige Ventilatoren an den Zimmerdecken, Trucks, die ihre Motoren laufen lassen in der feuchten Hitze, Sumpf, eine Stadt, auf Sumpf gebaut, ein Damm, auf Schlamm gestellt, Regengüsse, Stürme, zerstörte Häuser, abgerissene Wohnblöcke und der Mississippi River, seine Ufer an denen die Millionäre lebten.


Die Serie NOLA (New Orleans) entstand aus Wasserfarbe und Aquarell auf Papier, 29 cm x 21 cm. So wie die allgegenwärtige Feuchtigkeit und Nässe durchdringt die Farbe das Papier. Gezeigt wird zuerst die Vorderseite, dann die Rückseite. 

Der Text „Mitte Juni“ und die Serie NOLA stammen aus InterViews Heft X New Orleans, 2018.
Mo, 11/02/2020 - 08:39
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