Enemy Kids

Enemy Kids

Text: BUS126, Fotos: Jo Preußler
Ich laufe meilenweit durch meine Straßen. Ich renne stundenlang ohne auch nur einmal anzuhalten. Die ganze Stadt ist wie eine Oberfläche, in der ich mich spiegele. Abends, wenn ich die Lichtkegel der vorbeifahrenden Autos an der Decke anstarre, umgibt mich meine Stadt wie eine Haut. Sie begleitet mich durch meine Träume.
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Am Hinterausgang des Zoologischen Gartens ist der Ort der Stricher. Alte Männer mit dicken Bäuchen gehen mit minderjährigen Skeletten weg. Aber der Ort verändert sich. Statt Taschentüchern liegen jetzt überall Spritzen herum.
Wir treffen uns oft vor McDonald's am Zoo. Hier kommen verschiedene Crews aus allen Bezirken zusammen. Nicht selten kommt es zu Schlägereien. Seltsamerweise verliert niemand sein Leben, obwohl oft Messer im Spiel sind. Einige, die ich kenne, haben Narben von verschiedenen Stechereien am selben Bein. Viele Leute werden in Streß verwickelt, einfach nur weil sich jemand einen Ruf aufbauen will. Der Auslöser ist meistens pure Langeweile.
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Vom Balkon aus schaue ich auf ein rundes Wiesenstück, das von Holunderbüschen eingerahmt wird. Rechts ragt ein für die Gegend typischer Betonbau mit hellgelber Dekoration in den Himmel. Kleine Laternen mit Kugelköpfen hocken wie halb eingegrabene Zwerge an den Wegrändern. Hinter der trockenen Wiese beginnt dichter Baumwuchs, dahinter ein kleiner Schleichweg und kurz darauf stürzt die Erde steil in den Teltowkanal ab. Dieser etwa zwanzig Meter abfallende Hang ist mit undurchdringlichen Pflanzen und Bäumen bewachsen. Der Urwald gibt nicht einen kleinen Blick auf den Kanal frei. Nur über zwei alte Treppen ist ein Zugang zum Wasser möglich. Hier sitzen wir oft unter der Brücke. Lastkähne gleiten durch das Wasser wie durch dunkelgrünes Gelee. Kilometer von seltsamen Fäden schwimmen reglos auf der Oberfläche. Es ist nicht ungewöhnlich, daß tote Fische tagelang auf dem Wasser treiben. Der Verkehr holpert über uns hinweg. Die Brückenpfeiler ächzen jedes Mal unter der Last wie das Herz eines alten Mannes. Tagsüber malen wir unsere ersten großen Pieces hier. Immer an der gleichen Stelle. Wir überstreichen unsere Bilder und probieren es stets aufs Neue. Halil hat mehr drauf und zieht meist die Buchstaben vor, die ich dann ausfülle. Die leeren Sprühdosen werfen wir in eine Lücke zwischen dem Stahlgerüst und den Betonpfeilern.
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Das Märkische Viertel ist das eigentliche Ghetto von Berlin. Ein Meer von Wolkenkratzern bildet ein schräges Labyrinth. Aus den himmelhohen Kästen stürzen sich regelmäßig Leute. Auf die Fassaden sind riesige Hausnummern und Pfeile gemalt, die in mehrere Richtungen gleichzeitig zeigen. Zwischen den Betonblöcken sind kleine Brunnen und Skulpturen aufgestellt, die ebenfalls aus Beton sind. Nicht einmal tagsüber ist der Hochhauskomplex ein gemütlicher Ort. An manchen Stellen wird der Wind durch die Schluchten gepreßt. Selbst an warmen Sommertagen friert man hier.
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Nachts laufe ich durch die Straßen und suche nach einem Platz zum Schlafen. Wenn ich stundenlang umherlaufe und erschöpft bin, komme ich runter. Meine Knie schmerzen. Häuser, Wege, Orte, an denen ich schon viele Male vorbeigegangen bin, sehen auf einmal anders aus. Die Nacht mit ihren merkwürdigen Stunden, die wie Träume ineinander übergehen, ist mit den Wanderungen verbunden. Die Straßen sind das riesige Zimmer, in dem ich zu Hause bin. Wie seltsam es mir vorkommt, daß ich meinen Namen so oft hineingeschrieben habe.

Auszüge aus: BUS126: Enemy Kids, Possible Books, Berlin 2023

BUS126 ist in West-Berlin, in Lichtenrade, groß geworden und schildert in Enemy Kids seine Jugend. Die Fotos von Jo Preußler sind bei einem gemeinsamen Spaziergang 2022 durch Lichtenrade entstanden.
 
Mi, 07/19/2023 - 15:44
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