Editorial 10 Jahre

Editorial 10 Jahre

Im Oktober 2012 ging 99% Urban online – zehn Jahre später treffen sich die Gründungsmitglieder Malte Bergmann, Hannes Obens, Jana, Jasmin Rocha, Piet, Till Sträter und Anna-Lena Wenzel zum Gespräch, um über die Anfänge, die Besonderheiten und die Veränderungen des online Stadtmagazins zu sprechen.

Anfänge und Kontext: Wir sind die 99 Prozent und Recht-auf-Stadt-Bewegung

Anna-Lena: Ich war bei den allerersten Treffen ja gar nicht dabei. Erzählt doch noch mal, wie ihr auf den Namen 99% Urban gekommen seid.

Malte: Mir gefiel immer das Superlativ und das politische Moment mit Wall Street und Wir sind die 99 Prozent. Auch, dass dadurch offen blieb, was das eine Prozent oder was die 99 sind, fand ich gut.

Hannes: Gentrifizierungsprozesse nahmen damals in Berlin rasant zu und bedrohten soziale und politische Biotope und Milieus, die wir auch selbst nutzten. Insofern ist der Name auch als politische Positionierung zu verstehen.

Malte: Die Stadt als Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung zu nehmen, war wichtig. In den Sozialwissenschaften war der Raum vor zehn, fünfzehn Jahren ein großes Thema. Hinzu kam die Auseinandersetzung über das Wohnen in der Stadt, also in begrenzten Räumen, und über die begrenzte Verfügbarkeit von Wohnraum.

Anna-Lena: Das lag damals in der Luft. Parallel zu unseren ersten Treffen, sorgte Kotti und Co, eine Mietergemeinschaft am Kottbusser Tor, für viel Wirbel mit ihrem Gecenkondu, das sie neben dem Südblock aufbauten – eine kleine selbstgebaute Hütte, die als Nachbarschaftstreffpunkt und Infozentrum diente. Es war auch die Zeit, in der Andrej Holm mehrere Bücher veröffentlichte, wie Wir bleiben alle! Gentrifizierung – Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung, 2010. 

Jasmin: Wie würdet ihr das einschätzen? Wird das Thema gar nicht mehr diskutiert oder ist der Diskurs in der Mitte der Gesellschaft angekommen, in Politik und Verwaltung, nach dem Motto beteiligungsorientierte Stadtplanung? Das Thema ist doch so virulent wie noch nie. Wer darf hier wohnen, wer findet überhaupt noch eine Wohnung innerhalb des Rings?

Hannes: Ich glaube, die Recht-auf-Stadt-Bewegung war und ist eine der wirksamsten sozialen Bewegungen in Deutschland und in einigen anderen europäischen Ländern seit Jahrzehnten. Beim Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen” hat sich eine deutliche Mehrheit der Berliner*innen für eine Enteignung der großen profitorientierten Wohnungsunternehmen entschieden. Das ist eine Zäsur. Wohnen soll bezahlbar und nicht mehr nur Marktprinzipien unterworfen sein. Damit wird ein grundsätzliches Prinzip der Marktwirtschaft angegriffen. Ich kenne keine andere politische Sphäre, in der es  gelungen ist, aus der Verteidigung derart in die Offensive zu gehen und die Politik unter Zugzwang zu setzen.

Was macht 99% Urban aus?

Anna-Lena: Ich würde gerne noch mal zurück zu den Anfängen kommen. Was war eure Motivation bzw. was schwebte euch vor?

Malte: Wir hatten nie das Ansinnen, ein breites Publikum zu erreichen. Es war von Anfang an getragen von uns und dem, was wir machen wollten. 

Hannes: Ja, es war nicht unser Anspruch, etwas zu repräsentieren oder wissenschaftlich zu arbeiten. Wir hatten auch keine institutionelle Anbindung, Abhängigkeit oder Förderung. Dadurch hatten wir inhaltlich freie Hand, aber natürlich auch null Budget. Es ging mir darum, die Dinge zu behandeln, die vor der eigenen Haustür passieren. Mein Artikel Die geteilte Markthalle über die Markthalle 9 in Kreuzberg ist dafür ein Beispiel. Das ist ein Ort, der sich unmittelbar in meinem damaligen Wohnumfeld befand, da konnte ich tagtäglich Veränderungen wie unter einem Brennglas verfolgen. Ich habe die Umgestaltung der Markthalle 9 zum Bio- und Slowfood-Paradies als symbolisch für größere Entwicklungen im urbanen Raum und der ganzen Gesellschaft verstanden. Angetreten waren die Betreiber 2011 ja mit dem Versprechen eine „Halle für alle” aus der Markthalle zu machen. Damals gab es aber noch eine „Kik”- und „Aldi”-Filiale. Die waren den Betreibern offensichtlich ein Dorn im Auge, vielleicht weil diese die zahlungskräftigen Schichten abschreckten. 2021, zehn Jahre nach der Einweihung der neuen Markthalle, wurde auch der Aldi-Supermarkt geschlossen und damit der Supergentrifizierungs-Prozess der Markthalle abgeschlossen. Nun ist die Markthalle 9 ein Sehnsuchtsort für eine hippe und vermögende Klientel und eine über Berlin hinaus bekannte „Marke” der Stadt geworden. Für viele Anwohner*innen aber unbezahlbar. Der Artikel traf einen Nerv und wurde auch im Neuen Deutschland und Lokalzeitungen abgedruckt und im Diskurs mehrfach aufgegriffen. 

Anna-Lena: Du hattest einen besonders scharfen Blick für soziale Konflikte, Hannes. Einer deiner ersten Artikel hieß Der Körper von Harzt IV – du hast damit eine klassismuskritische Perspektive eingenommen, als dieser Begriff noch nicht so verbreitet war wie heute!

Hannes: Das kann man so sagen. Aufhänger war ein Artikel auf Spiegel Online zu Hartz IV, der durch ein Foto einer übergewichtigen Frau mit mehreren Kindern illustriert wurde. Diese sich darin ausdrückenden Zuschreibungen haben mich richtig wütend gemacht. Man musste Leuten damals ausführlicher erklären, was daran diskriminierend war. Heute würde das Bild heutzutage skandalisiert werden.

Anna-Lena: Was waren weitere Merkmale von 99%Urban?

Piet: Es ging viel um Berlin – obwohl es den Versuch gab, es zu öffnen und wir immer wieder Beiträge aus anderen Ländern hatten wie aus Kapstadt, aus Sao Paulo, aus Neapel.

Hannes: Wir haben halt geguckt, woher wir Beiträge bekommen haben und haben versucht, unser Profil zu schärfen. Urbanität und soziale Konflikte: Reibung, Reibung, Reibung ...

Piet: ... das hat sich durchgezogen.

Anna-Lena: Wobei wir gar nicht über die geteilte Stadt gesprochen haben. Es war kein Thema, das es Ost und West, zwei unterschiedliche Stadtplanungen und Auffassungen vom öffentlichen Raum gab. Wenn wir davon sprechen, dass uns die Reibung in der Stadt interessiert, dann müssen wir uns eingestehen, dass das schleichende Verschwinden der Spuren der DDR lange Zeit an uns vorbei gegangen ist und wir die Konflikte, die während und nach der Wende stattgefunden haben, nicht auf dem Schirm hatten. Das muss man vielleicht auch noch mal benennen, dass wir – bis auf Jasmin, die in Ostberlin geboren wurde und 1989 mit ihren Eltern nach Westberlin floh – alle westdeutsch sozialisiert sind und wir diesbezüglich eine krasse Lücke haben. Wir sitzen hier im Prenzlauer Berg – ein Bezirk, der prototypisch ist für den fast kompletten Austausch der Bewohner*innenschaft nach 1990. Hinzu kommt die Veränderung des Stadtraumes: Gebäude sind verschwunden, Straßen wurden umbenannt, Kunst am Bau wie das Fries am Pressecafé am Alexanderplatz wurden entfernt oder über Jahrzehnte überdeckt.

Hannes: Weil du gerade den Alexanderplatz erwähnt hast: Ich finde es ziemlich krass, dass durch die Hochhäuser, die dort gebaut werden, die Statik der U-Bahnstation massiv gefährdet ist. Das ist ein ganz schönes Bild für die Schieflage, in der wir uns befinden.

Jana: Für mich war charakteristisch, dass man Themen gefunden hat, die nicht im Mainstream Kontext waren. Sich selber was zu überlegen, finde ich besonders. Das ist gar nicht so leicht, weil über alles ja schon mal geschrieben wurde.

Piet: Wir sind ein bisschen im akademischen Urbanismus-Diskurs mitgeschwommen und gleichzeitig ist doch etwas ganz Individuelles entstanden.

Anna-Lena: Für mich war und ist 99% Urban vor allem ein Freiraum – für Formate und Themen, die sonst keinen Platz finden. Für mich, die aus dem akademischen Schreiben kam, war es eine tolle Möglichkeit, andere Arten des Schreibens und des „Sprechs“ ausprobieren und teilen zu können.

Malte: Ich hab das immer so gesehen, dass wir in der Tradition von alternativen Stadtmagazinen wie Szene Hamburg oder Zitty Berlin stehen.

Jana: Ja?

Malte: Naja, nicht so, wie wir es aus der Spätzeit von Zitty und tip kennen, sondern als es gestartet ist in den 1970er Jahren. Da gab es viele selbstgemachte Magazine von Leuten aus politischen Bewegungen, die neue Öffentlichkeiten erschlossen. Sie wollten die ganze Bandbreite abdecken – vom Alltagspraktischen übers Politische bis zum Kulturellen. Besonders die Suchanzeigen waren eine herrliche Fundgrube (lacht).

Till: Es wäre interessant zu schauen, ob es jetzt noch ein Medium gibt, wo so urbane Inhalte verhandelt werden. Zitty ist ja während Corona gestorben bzw. mit tip fusioniert oder mitgeschleppt worden. Als ich nach Berlin gekommen bin, war das ein wichtiges Magazin, das mit der Zeit aber immer mehr zu einem Servicemagazin wurde.

Jana: Für mich war der Unterschied zu diesen Magazinen, dass 99% Urban am Lack gekratzt hat. Es ist nicht das Offensichtliche, worüber wir berichten, sondern die Ebene darunter. 

Malte: Ja, wir haben uns dezidiert vom Kommerziellen oder der Dienstleisterfunktion dieser Magazine abgegrenzt – was sie letztlich dann ja auch getötet hat.
Ich komme immer wieder gerne auf unseren Kontrahenten Stadtaspekte zurück, die im Gegensatz zu uns hoch hinaus wollten und damit gescheitert sind. Wir haben es auf Langlebigkeit und Antiprofessionalität angelegt und haben allen Monetarisierungsstrategien ...

Anna-Lena: ... und Großwerdenstrategien getrotzt. Wie Stadtaspekte das Angebot eines Geldgebers anzunehmen und eine Printausgabe für den Kiosk zu machen, kam für uns nicht in Frage – auch weil uns niemand gefragt hat. Wovon wir uns auch dezidiert abgegrenzt haben, war der akademische Diskurs auch wenn wir mitunter aus ihm kamen. Das Magazin sub\urban, das dieses Jahr ebenfalls zehn Jahre alt geworden ist, ist da viel näher dran.

Jasmin: Wobei das Professionalisierungsthema durchaus diskutiert wurde.

Malte: Ja, erzähl mal, das weiß ich nicht mehr.

Jasmin: Es gab zum Beispiel Überlegungen, Fördergelder zu beantragen oder Diskussionen darüber, wie intensiv wir Social Media nutzen wollen bzw. wer dafür Ressourcen hat.

Anna-Lena: Ja, warum auch nicht. Aber es ist ein Unterschied, ob es darum geht, die vorhandene Struktur zu stärken – oder komplett umzusatteln auf ein professionelles Magazinformat.

Jana: Ich find an dieser Stelle den Begriff Professionalisierung schwierig. Wir sind alle Professionals, wir waren nur nicht bezahlt! Wir hatten ein Vier-Augen-Prinzip und haben bestimmte Standards eingehalten.

Hannes: Was ich ganz schön fand an 99%, war die Offenheit der Form. Gleichzeitig haben die einzelnen Rubriken die Formate aber auch klar vorgegeben und strukturiert. Man musste sich gedanklich schon ganz schön reinfuchsen, wie und wo man die Beiträge unterbringt.

Jana: Warum haben wir uns denn eigentlich diese strikten Kategorien gegeben?

Hannes: Wir wollten uns eine besondere Form geben, selbst Themen setzen und hatten nicht den Anspruch aktuell sein. Wir waren zwar eine Webseite, aber immer auch noch ein wenig analog wie eine Zeitung.

Piet: Das stimmt, wir haben es vom Analogen her gedacht. Und Ana Laura kam auch vom statischen Print-Design. Das war ein echter Prozess, die Entwicklung des Designs. Da überrascht es umso mehr, dass man immer wieder Seiten findet, die das Design zu kopieren schienen. Hatten wir nicht beim letzten Mal eine ganz ähnliche Grafik gesehen?

Jana: Hat jemand etwas geklaut?

Piet: Weiß man nicht genau, aber dieser Bauhausstil ist schon ziemlich zeitlos und klassisch. 

Anna-Lena: Diese Klarheit war auf jeden Fall ein guter Kontrast zu den diversen Inhalten!
Was auch Teil unseres Prinzips ist, dass die Urheber*innen in den Hintergrund treten. Wir catchen nicht mit names, obwohl wir Beiträge von Autor*innen wie Thomas Melle, David Wagner, Ulrike Ottinger, Anne Waak oder Noa Ha haben, die in bestimmten Öffentlichkeiten recht bekannt sind. Wir haben das aber nie strategisch eingesetzt. Es geht uns um die Inhalte. Dazu gehört auch, dass wir durchaus auf Diversität geachtet, aber das nicht explizit zum Thema gemacht haben. Wir haben uns oft bewusst dagegen entschieden, auf irgendeiner Welle mitzureiten.

Malte: Es war eben ein Fanzine, und nie strategisch für irgendeinen weiterführenden Zweck gedacht.  

Anna-Lena: Ja, es ist extrem idealistisch. Für mich ist eine besondere Qualität von 99% Urban, dass es eine Plattform bietet für Beiträge, die beiläufig entstehen. Zum Beispiel die Stadtaufnahmen bei „So klingt“, die du, Jana, von deinen vielen Reisen mitgebracht hast. Unabhängig vom Grund deiner Reise fangen sie eine Atmosphäre dieser Städte ein. Ich frage oft Künstler*innen, die auf Reisen waren, weil mich ihr spezifisch künstlerischer Blick auf Städte interessiert. Ohne es groß zu thematisieren, gelingt es dadurch, für die unterschiedlichen Umgänge und Perspektiven auf Städte zu sensibilisieren.

Jana: ... es hat etwas Sinnliches!

Anna-Lena: Ja, genau. Es gibt eine visuelle, eine akustische und eine inhaltliche Ebene. Es gibt akademisch-journalistische Texte und solche, die sehr frei und poetisch sind.

Jana: Ich finde, es ist ein zärtlicher Blick auf die Stadt.

Till: Das ist total schön, dass ihr das sagt, denn ich erinnere mich, dass ich mit einer Person darüber gesprochen habe, was der Mehrwert dieses Projektes ist, und ihr habt es gut beantwortet: es ist das Sinnliche, das sich nicht quantifizieren lässt. Es ist eine sinnliche Wahrnehmung der Stadt, die man mit anderen teilen möchte.

Das Kollektive verläuft sich

Malte: Irgendwie war es dann vorbei. Haben wir das eigentlich beschlossen oder wie war das?

Anna-Lena: Es ist einfach ausgelaufen. Ich habe immer wieder Versuche unternommen, Treffen zu organisieren, aber wir haben schlicht keine gemeinsamen Termine gefunden. Das lag an beruflichen und privaten Veränderungen. Z.B. waren Hannes und ich am Anfang eine Zeitlang arbeitslos, was sich dann geändert hat, einige haben Kinder bekommen. Es war ein schleichender Prozess. Man hat gemeinsam mit dem Impuls begonnen, dieses Magazin zu gründen, aber dann im Dauerlauf, in der konkreten Realisierung, zeigte sich, was für Kapazitäten tatsächlich vorhanden sind. Als wir angefangen haben, war schwer abzusehen, wie viel Arbeit es werden würde – und wie man es gut umsetzen kann. Es zeigte sich, dass Hannes und ich diejenigen waren, die am meisten beitrugen, also selber Beiträge einbrachten und von anderen anfragten, und für die ganze Care-Struktur sorgten, wenn man das so nennen will. Also immer wieder Redaktionstermine vorschlugen, Protokolle schrieben, die Texte lektorierten. Das fühlte sich mit der Zeit immer zäher an. Und als Hannes dann anfing, seinen Film zu machen, war der Moment gekommen, zu sagen, so geht es nicht weiter, hier läuft was schief.

Piet: Bei mir war es tatsächlich beruflich zu viel. Es war eine Zeitfrage.

Jasmin: Ja, und dann macht es ja auch keinen Sinn, Treffen zu organisieren, wenn du eh die ganze Arbeit machst.

Anna-Lena: Ja.

Hannes: Wie lange machst du es denn eigentlich schon alleine?

Anna-Lena: Ich glaube, das Protokoll der letzten gemeinsamen Sitzung – es war die 51. – ist vom Januar 2016. Das heißt, ich mache das Magazin jetzt etwas länger alleine, als mit euch zusammen.

Hannes: Als wir uns alle verflüchtigt hatten, hast du, Anna, dann neue Akzente gesetzt. Du hast Leute angesprochen, die eher einen künstlerischen Zugang zu Themen hatten. Du hast dann ja auch das Selbstverständnis angepasst und umformuliert, wobei es Kunst ist, die nicht in einem High-End-Bereich ist, sondern versucht, Alltagsphänomene zu adressieren. Wodurch du der Sache ein Stück weit treu geblieben bist. Es gab eine Änderung in der Gewichtung, ein bisschen weg vom dezidiert Politischen, wobei das Politische implizit geblieben ist.

Anna-Lena: Ja, das Politische ist noch da, aber die Direktheit, mit der du soziale Konflikte benannt hast, Hannes, fehlt. Ich mochte zum Beispiel sehr deinen Artikel über ein linkes Wohnprojekt in Lichtenberg, in dem du dich nicht gescheut hast, die kritischen Punkte zu benennen, die dabei auftauchten – ein heikles Unterfangen!
Ich versuche es so offen wie möglich zu halten – mit dem Urbanen als verbindendem Element. Es gibt Beiträge aus dem Aktivismus, aus dem Theaterkontext, aus der Literatur etc. Und zuletzt zwei Artikel zur Recht-auf-Stadt-Bewegung aus Málaga und Neapel. Was sich aber verändert hat, ist die Tatsache, dass ich fast nur noch bereits bestehendes Material übernehme und kaum noch selber Artikel schreibe. Das hat ganz klar mit begrenzten Ressourcen zu tun.

Jasmin: Wie ist es, alleine weiterzumachen? Ist es einfacher geworden?

Anna-Lena: Jein. Was mir bei meinem intuitiven Vorgehen fehlt, ist euer redaktionelles Feedback. Mir fehlen die Schärfe eures Blickes und das Vermögen, Phänomene zuzuspitzen oder auch Janas journalistischer Anspruch bzw. Erfahrung. So wie jetzt gerade waren das immer sehr anregende Diskussionen. Zäh waren eher die Momente, wenn es um die Aufgabenverteilung ging.
Aber ich habe sehr viel Praxiserfahrung sammeln können in Bereichen, in denen ich nun vermehrt unterwegs bin. Mittlerweile verdiene ich mein Geld mit dem Schreiben von Texten und auch mit redaktioneller Arbeit. Es hat einen Unterschied gemacht, dass ich „hauptberuflich“ Autorin und Künstlerin bin, während die meisten von euch eher klassisch angestellt sind. Für mich ist es auf eine Art normal, Dinge zu machen, deren (monetärer) Sinn sich nicht auf den ersten Blick entschlüsselt.

Jana: Warst du eigentlich enttäuscht, als 99% Urban als gemeinsames Projekt zu Ende ging?

Anna-Lena: Hm. Ich würde das ja nicht machen, wenn ich da keinen Bock drauf hätte. Ganz wichtig ist, dass es keinen Zeitdruck gibt, und dass hier viele Dinge einfließen, die mir als Journalistin/ Urbanistin/ Künstlerin eh über den Weg laufen. Es ist oft eine Win-Win-Situation, wenn zum Beispiel die Beiträge aus einer Zusammenarbeit heraus entstehen.
Aber klar, es ist schon krass, wie viel unbezahlte Arbeit da drin steckt. Das liegt auch daran, dass unser Format in Bezug auf Förderungen undankbar ist, weil es für diese Art Zwitterformat unterschiedlicher Disziplinen kaum Töpfe gibt, und es Webseiten im Vergleich zu Projekträumen viel schwerer haben, eine Projektraumförderung zu bekommen. Immerhin habe ich letztes Jahr eine Förderung über 2000 € bekommen.
Das Nicht-Einordbare zeichnet uns gleichzeitig aber auch aus. Es ist auf eine Art toll, etwas zu machen, was so singulär ist wie 99% Urban – und gleichzeitig viel positives Feedback bekommt. Das ist ja schon auch wichtig: zu sehen, wie viele die Beiträge anschauen (der meistgelesenste Artikel Fleischmarkt wurde ca. 27.400 mal geklickt!) und die Erfahrung zu machen, dass viele Bock haben, etwas zu veröffentlichen, obwohl es kein Honorar gibt. Ich habe das Gefühl, dass die Beitragenden dieses Unabhängigsein von Geldgeber*innen oder einer potentielle Leser*innenschaft als Freiraum sehen können und schätzen, dass 99% Urban eine ganz eigene Handschrift und Visibilität hat.

Malte: Ich fand das letzte Treffen im September diesen Jahres bemerkenswert, als wir nach langer Zeit zum ersten Mal wieder zusammengekommen sind und uns eigentlich „nur“ treffen wollten und dann sofort wieder anfingen, Ideen für einen neuen Schwerpunkt zu entwickeln. Da hat sich direkt wieder eine Energie aufgebaut, die etwas mit unserer Gemeinsamkeit und der Konstellation zu tun hat.

Anna-Lena: Ja, ich finde es total toll, heute diesen Abend mit euch zu teilen. Weil es uns noch mal zu unserer Stärke zurückbringt: dem gemeinsamen Entwickeln von Ideen und dem Austauschen von Beobachtungen. Diese Momente des inhaltlichen Austausches sind so rar! Deswegen habe ich unsere Runden, bei denen wir gemeinsam Ideen entwickelt haben, immer so geschätzt.

Jasmin: Als du uns zu einem Reunion-Treffen eingeladen hast, musste ich zurückdenken an die Zeit, in der wir uns regelmäßig getroffen haben, erst im Lisbeth, dann im Südblock, das war ein schöner Rahmen.

Piet: Wir haben uns auch ein paar Mal bei dir zu Hause in der Köpenicker getroffen.

Anna-Lena: Stimmt. Wir haben ja auch die Salons gemacht! Das war ein super schönes Format, zu dem wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen haben, Ideen mit uns zu teilen.

Hannes: Und es gab die Ausstellung im Hamburger Gängeviertel!

Anna-Lena: Und mehrere Printausgaben, die wir in kleiner Auflage gemeinsam gedruckt, gebunden und releast haben!

Was wir mitgenommen haben

Malte: Ich habe noch eine Abschlussfrage: Was habt ihr mitgenommen? Sowohl aus den Treffen und Gesprächen mit uns als auch mit dem Format und den Inhalten?

Hannes: Was ich mitgenommen habe, ist, dass man die Chance hat, in aktuelle Konflikte einzugreifen. Das Prinzip von diskursiven Interventionen war ein starker Impuls. Dass man von außen kommend etwas schreibt, was aufgegriffen wird und dazu führt, dass ein Thema, das einem unter den Nägeln brennt, diskutiert wird und Wellen schlägt. Bei der Markthalle 9 gab es tatsächlich den Impuls, auf vermeintlich „sanfte” Gentrifizierungsprozesse aufmerksam zu machen. Das hat geklappt – nicht in dem Sinne, dass wir die Entwicklung gestoppt hätten, aber das Thema bekam Aufmerksamkeit. Es wurde von Zeitungen aufgegriffen und wir haben eine Diskussionsveranstaltung organisiert.
Ich würde behaupten, dass dieses Gefühl von Wirksamkeit, das ich hier erfahren habe, mit ein Grund war, warum ich es für möglich gehalten habe, den Dokumentarfilm Im inneren Kreis zu machen, der im Anschluss entstanden ist. Wenn das klappt, kann ich auch diesen Film machen – ohne Grundlage oder Infrastruktur, weil das Thema brennt.
Jenseits der eigenen „Selbstoptimierung“ habe ich von den Diskussionen viel mitgenommen. Die haben mir in Zeiten der Unsicherheit Struktur und regelmäßigen Austausch gegeben.

Jasmin: Ich fand es eine interessante Erfahrung, sich mit vielen Leuten zusammenzufinden und zu versuchen, ein gemeinsames Projekt auszuhandeln. Ich fand es als soziales Experiment interessant, in einem freiwilligen Raum zusammenzukommen, in die jede*r seine*n eigenen Erwartungen und Interessen eingebracht hat.

Till: Eine meiner prägendsten Erinnerungen war ein Interview, das ich gemeinsam mit Anne Britt Arps, heute Mitherausgeberin der Blätter für deutsche und internationale Politik, mit einem Vertreter von der PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca) geführt habe. Das war eine soziale Bewegung in Spanien, die sich gegen die Zwangsräumungen gebildet hat. Als die Immobilienkrise durch die Decke ging, fanden jeden Tag Hunderte von Zwangsräumungen statt und Familien wurden aus ihren Häusern geworfen. Wir fanden spannend, was die machen und haben mit jemandem gesprochen, der im Haus der Kulturen der Welt auf einer Tagung eingeladen war. Der fing bei der Hälfte des Interviews an zu weinen, als er über die soziale Situation gesprochen hat. Wir haben vielleicht eine Stunde mit ihm gesprochen und es war wahnsinnig berührend. Aber ich habe es neben meinem Job nicht geschafft, es zu übersetzen, obwohl es cool gewesen wäre. Das andere ist der Diskussionszusammenhang, der durch die Treffen entstanden ist. Die Struktur, die wir hatten, hat eine eigene Energie produziert, die ich aus politischen Zusammenhängen kenne. 

Jana: Dem stimme ich zu. Was ich besonders finde, dass es ein politischer Zusammenhang war, wo es etwas Bleibendes gibt – etwas virtuell Händisches. Das gibt es nicht so oft, meist ist es so, dass man eine Kampagne, eine Demo oder eine Veranstaltung für etwas macht, aber das ist nicht archiviert. Bei der Arbeit kommt sofort die Frage: Was ist der Anlass und wer will das wissen? Das ist bei 99%Urban anders, wo man kleine und nebensächliche Sachen machen kann.
Für mich ist es so, dass ich Arbeit und politisches Engagement trenne. Wenn man Glück hat, macht man eine Arbeit, die einem Spaß macht, aber politisches Engagement findet für mich außerhalb der Arbeit statt. Was ich noch sagen möchte ist, dass ich es ganz toll finde, dass du, Anna-Lena, das weiterführst. Du warst eine der treibenden Kräfte des Ganzen. Ich finde deine Herangehensweise total bewundernswert – dass du die Sachen machst, dass du sie so kombinierst. Ich glaube, du bist wahnsinnig gut im Kommunizieren und eine authentische Person, mit der die Leute gerne zusammenarbeiten. Ich ziehe meinen Hut davor, dass du das aufrecht erhalten hast über all die Jahre. Ich muss sagen, da lerne ich ganz viel von dir, dass du das alleine macht, weil das wahnsinnig schwer ist. Wir würden hier heute nicht sitzen ohne dich. Der Respekt vor deiner Arbeit ist eines der Dinge, die ich hier rausgezogen habe.

Anna-Lena: Danke, Jana.

Piet: Was ich für mich rausgezogen habe, ist zu gucken, wie es ist, etwas zu veröffentlichen, was noch nicht ganz ausgereift ist oder sich im Prozess noch verändert. Dieses DIY-Prinzip – einfach machen – das war eine gute Erfahrung. Ich hätte viel länger gewartet, bis ich damit öffentlich gegangen wäre.

Anna-Lena: Lustig ist ja, dass wir, Piet und ich mit mehreren anderen, in Hamburg schon mal überlegt hatten ein DIY-Magazin zu gründen. Wir haben über ähnliche Fragen nachgedacht: Worüber wollen wir wie schreiben? Was fehlt in der Medienlandschaft?

Jasmin: Apropos DIY – wir müssen noch mal die Leute erwähnen, die uns am Anfang unterstützt haben – Ana Laura Campos aka Büro Class und Hanno Willkomm, der uns die Seite programmiert hat. Beide haben das umsonst gemacht.

Malte: Genau wegen diesen Fragen der Nicht-Bezahlung habe ich die Frage gestellt, was davon bleibt, weil die viele Zeit, die wir eingebracht haben, nie im Sinne einer Monetarisierung abgerechnet werden kann. Ich bin total dankbar über das, was ihr gesagt habt, weil ja doch so viele Sachen passiert sind. Ich fand zum Beispiel die ewig dauernden Diskussionen über die Webseite unsäglich, aber ich kann in anderen Zusammenhängen immer wieder darauf rekurrieren. Zudem hat es mir Spaß gemacht, das Ding mit zu entwickeln – viel mehr als zu schreiben. Ich hatte so viel zu sagen zu vielen Dingen, die mir alle am Herzen lagen und die wir gemeinsam diskutiert haben. Dabei habe ich selber fast nichts geschrieben. Im Nachhinein verstehe ich besser, dass dieses Impulse geben auch ein wichtiger Teil der Gestaltungsarbeit war.

Jasmin: Es war ja auch nicht die Intention, dass wir alle selber schreiben, sondern wir schaffen einen Raum, eine Plattform für Leute.

Malte: Ja, das war besonders. Es ist schön, dass wir heute wieder in der alten Formation zusammenkommen und daran anknüpfen. Das hat zwischen uns ganz viel gemacht und ist etwas, was bleibt.

Anna-Lena: Freundschaft als Basis.

Jana: Ja, wir kennen uns zum Teil schon wirklich lange. Erstaunlich, dass wir nie einen krassen Konflikt hatten!

Malte: Wir haben uns schon gefetzt ...

Jana: ... aber nie persönlich.

Anna-Lena: Vielleicht hat uns gerettet, dass wir nie über Geld streiten mussten. Lasst uns auf die letzten zehn Jahre anstoßen!

 
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Parasite Parking Logbuch einer öffentlichen Intervention von Alexander Sacharow und Jakob Wirth

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Die Fotos und der Text stammen au

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