Was Corona verändert II

Was Corona verändert II

Im Draußen, im Miteinander, im Alltag
Anna-Lena Wenzel
Draußen
Weil man es vermeidet mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein, bewegt man sich verstärkt im lokalen Umfeld. Statt zu sitzen, läuft man und bekommt mehr vom eigenen Kiez mit: Ich beobachte, wie die Polizei mit einem Mannschaftswagen und zwei Autos vor dem Späti vorfährt um ihn zu schließen, ich höre, wie zwei Polizisten mit Lautsprecherdurchsagen die Menschen auf dem Sportplatz neben meinem Haus dazu auffordern ihn zu verlassen. Ich trete auf den Balkon, weil ich vom Gebrüll eines Mannes aufgeschreckt werde, der wiederholt schreit „Du sollst die Fresse halten“. Vor dem gegenüberliegenden Haus sehe ich ein junges Paar mit einem Baby im Kinderwagen. Der Mann tut geschäftig, schiebt den Wagen vor sich her und brüllt dabei die Frau an, die passiv daneben steht. Abends eine weitere Szene: Zwei Personen schieben ihre Fahrräder vorbei, der Mann ist erregt, immer wieder erhebt er seine Stimme und macht der Frau Vorwürfe. Er fuchtelt mit der Bierflasche im Arm herum, sodass sein Fahrrad umfällt. Irgendwann hört man heraus, dass es sich um Mutter und Sohn handelt, die sich lange nicht gesehen haben. Der Mann scheint verzweifelt zu sein, seine Stimme wechselt zwischen Anklage und Bitten. „Er kann keine Rechnung stellen“, sagt er. Weil er sie bedrängt und nicht wegfahren lässt, folgen wir ihnen und rufen irgendwann die Polizei. Zwei weitere Passanten sind ebenfalls stehen geblieben und erkundigen sich, ob sie helfen können. Abgesehen davon ist es gespenstisch still und leer auf den Straßen.

Miteinander
Insgesamt weicht die Unruhe und Unsicherheit der ersten Woche einer allmählichen Gewöhnung an die Hiobsbotschaften und -bilder aus dem Fernsehen, an das Zuhause bleiben und das Wissen, dass dieser Virus nicht aufzuhalten ist, aber die Grundversorgung dennoch gewahrt bleibt. Es setzt etwas Routine ein, auch weil man Strategien, Strukturen und neue Routinen gefunden hat, um sich zu beschäftigten. So erzählt H., dass sie noch nie so viel kommuniziert hätte, wie in diesen Tagen, und dass es nicht „Social Distancing“ sondern „Physical Distancing“ heißen müßte. Tatsächlich bin ich überrascht, wie schnell man die neuen Regeln inkorporiert und es plötzlich nicht mehr erträgt, wenn Menschen einem zu nahe kommen, in der Öffentlichkeit husten oder auf den Boden spucken. Ich merke, wie schwer ich es aushalte, ungeschützte Verkäuferinnen zu sehen, wie mir es Unbehagen bereitet einen Einkaufskorb anzufassen oder meine Geheimzahl einzugeben. Sascha Lobo hat dafür den passenden Ausdruck „Vernunftpanik“ entwickelt, der treffend die widersprüchliche Gleichzeitigkeit beschreibt von „das richtige tun wollen“ und einem unangemessenen Versteifen auf die Sache, das oft mit einer Geste des herablässigen bis aggressiven Herunterschauen auf diejenigen verbunden ist, die es noch nicht geschnallt haben. Warum halten sich einige an die Regeln und andere nicht? Mit W. diskutiere ich über unterschiedliches Vertrauen in den Staat: Während wir und als Bürger dieses Staates fühlen, um dessen Gesundheit er sich gerade sorgt, sind andere nicht hier aufgewachsen und haben dieses Vertrauen nicht – DDR-sozialisierte Menschen zum Beispiel oder Menschen mit Migrationshintergrund, die vom Staat eben auch nichts geschenkt bekommen oder häufig übersehen werden. Sie haben dieses Privileg des Vertrauens nicht.

Alltag
Während K. etwas verzweifelt guckt, als sie sagt „Ich schwinge frei“, sagt S. sie genieße den Luxus des selbstbestimmten Arbeitens im Home-Office. Auch F. freut sich über das Freigestelltsein: „Ich war die letzten beiden Tage nicht draußen und habe die Zeit komplett verlesen, das war wunderbar und tat gut.“ H. wiederum nutzt die Zeit um einen Podcast über positives Denken zu hören, und erzählt im nächsten Moment, dass sie jetzt immer ihr Telefon zu Hause lässt, weil sie nicht geortet werden will. Die Herausforderung, ein Gefühl für die Relation und Dringlichkeit des Ganzen zu bekommen, besteht weiterhin. Ebenso wie das Bedürfnis etwas zu tun (wie die Spenden für obdachlose Menschen zeigen, die an Zäunen im Freien hängen) oder die Dringlichkeit, alternative Geldquellen aufzumachen, die zu einem Lahmlegen der Server der Berliner Investitionsbank geführt haben, weil der Andrang auf finanzielle Hilfe so groß war.
 
Mo, 03/30/2020 - 15:49
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