Unter den Armen und Elenden Berlins
Unter den Armen und Elenden Berlins
Hans Richard Fischers Streifzüge durch die Tiefen der Weltstadt
11/2019
1878 erschien ein schmaler Band mit Reportagen unter dem Titel "Unter den Armen und Elenden Berlins. Streifzüge durch die Tiefen der Weltstadt" von Hans Richard Fischer, der damals erst 24 Jahre alt war. Es enthält Beschreibungen von Berliner Asylen für Obdachlose, Irrenanstalten, Waisen- und Siechenhäuser. Das Buch, das lange vergriffen war, wurde dieses Jahr von Peter Graf neu herausgegeben und erschien in einer tollen Ausgabe im Walde + Graf Verlag aus Berlin. Wir dürfen das erste Kapitel veröffentlichen: MODERNES ELEND
Wenn dieses Buch in die Oeffentlichkeit tritt, ist Berlin um eine Stätte ärmer, die wahrlich nicht zum Ruhm der Reichshauptstadt beitrug. Ich meine das STÄDTISCHES ASYL FÜR OBDACHLOSE in der Friedenstraße. Von Ende Oktober 1887 ab erhebt sich vor dem Prenzlauer Thor ein stattlicher Bau, in dem die „Parias der Gesellschaft“ für einige Nächte ein Unterkommen erhalten. Wenn sich auch deshalb nicht das Elend vermindert, so glaube ich doch, daß durch das neue Haus ein anderer Geist ziehen wird, als durch den alten, nun bald verschwindenden Barackenbau.
Berlin besitzt ein Privat-Asyl für Obdachlose, das in die Männer-und Frauen-Abtheilung zerfällt und das erwähnte, ebenfalls von beiden Geschlechtern benutzbare Städtische Asyl. Das erstere ist mustergiltig und ein sicherer Bergungsort; ganz das Gegentheil war mit dem anderen der Fall. Um eine der Wirklichkeit entsprechende Schilderung geben zu können, habe ich das Asylwesen als Armer unter den Armen beobachtet. Ein Jeder, der über sociale Zustände schreibt, sollte dieselben aus eigener Anschauung ken¬nen und solange es sich nicht um unüberwindbare Schwierigkeiten handelt, die Dinge an der Quelle studiren.
In einem altersschwachen Anzuge, zu dem ein zerlöcherter Hut vortrefflich paßte, langte ich eines Abends gegen neun Uhr vor der Nr. 53 der Friedenstraße [1] an. Ein wackeliger Zaun, dessen Mitte eine enge Thür einnahm und an deren rechter Seite ein Schild angebracht war, schloß das „Städtische Asyl für Obdachlose“ von der Außenwelt ab. Den von einer Gaslaterne beleuchteten Eingang hielten zwei Schutzleute besetzt, die unerbittlich Jeden zurückwiesen, der ihrer Ansicht nach zu tief in die Flasche geguckt hatte und das war bei Manchem der Fall. Ich öffnete die Thür und betrat eine Art Vorhof, auf dem sich die der Straße zunächst liegende Holzbaracke erhob und die vorn in einem Verschlage das Aufnahmebureau und weiter hinten den Raum für die weiblichen Obdachlosen enthielt. Zur Zeit der großen Berliner Wohnungsnoth schnell aufgeschlagen, dienten die Holzbaracken nun schon Jahre lang Asylzwecken. Ich wollte eben die in das Innere führenden paar Stufen hinaufsteigen, als ein blutjunges Mädchen, mit einem Kinde auf dem Arme vor mir her wankte. Wir betraten gleichzeitig den Aufnahmeraum. Hinter niedrigem Verschlage saß schreibend ein brillenbewaffneter Aufseher.
Mit kaum vernehmbarer Stimme gab das Mädchen ihren Namen und die Geburtsdaten an. Dann ein barsches „Geradezu“ und die Abgehärmte wankte von dannen. Was mich betrifft, so nannte ich, indem ich die vorschriftsmäßige militärische Aufstellung nahm, meinen vollen Namen. Glücklicherweise wurde ich nicht nach der Art des Berufs gefragt und konnte denn ungehindert weiter dringen. Ich möchte übrigens bemerken, daß man mich, als ich einige Monate später, im Sommer 1887, das Unternehmen wiederholen wollte, erkannte und nach einer lebhaften Auseinandersetzung zurückwies.
Die Baracken waren untereinander durch Laufstege verbunden. Ich überschritt den ersten und öffnete die Thür zu der mir an¬gewiesenen Baracke. Ein Schritt nach vorn und ehe ich mich’s versah, lag ich langhingestreckt auf — Menschenleibern. Unter dem Stöhnen und Schimpfen der am Boden Liegenden erhob ich mich. Ich blickte umher. War’s Wirklichkeit, war’s Traum, das sich den Augen bot? Ich stand dem grausigsten Elend gegenüber, das aus jedem Winkel der Baracke grinsend hervorschaute.
… Vielleicht entsinnt sich noch Dieser und Jener des Bildes der Wereschagin-Ausstellung [2] vom Jahre 1881, das ein großes Todtenfeld darstellte. Wie ich die Anzahl von Menschen sah, die hier im Asyl enganeinandergepfercht sich am Boden wälzten oder stehend den Morgen erwarteten, lebte die Erinnerung an jenes erschütternde Bild des russischen Malers wieder in mir auf. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte. Die Baracke war mit etwa dreißig Bänken gefüllt, von denen jede mit zwei auf ihnen ausgestreckten Obdachlosen mit Beschlag belegt worden war.
Unter und zwischen diesen Bänken „ruhten“ neben- und übereinander die minder vom Glück begünstigt Gewesenen. Denn wer einen Platz da oben erhaschen konnte,“ wurde beneidet und mehr als einmal ist es deshalb zu Schlägereien gekommen. — Alles wegen einer Ruhestätte auf einer schmalen Bank. Endlich wagte ich ein Weitergehen; es war schwer. Wo sich ein freies fußlanges Plätzchen zeigte, setzte ich ein und so vermochte ich denn all¬mählich nach dem Hintergründe der Baracke zu gelangen, wo ich noch einige Spätangekommene verzweifelnd stehen sah. „Bist auch nicht früh genug gekommen“, rief mir ein vielleicht zwan-zigjähriger Bursche zu, dessen Aeußeres ebenso zerlumpt wie das meinige war.
Wer ein eigenes Heim hat, wer nie in kalter Nacht obdachlos durch die Straßen geirrt ist, wird es kaum glaublich finden, daß die Mehrzahl der Unglücklichen — sehr gut schlief. Manche hatten sich Tage hindurch nicht mehr ausgestreckt, die Nächte wurden, nur dann und wann durch ein Stillstehen oder Setzen auf einen Stein oder eine Promenadenbank unterbrechend, in fortwährender Wanderung verbracht. Der Körper ist schließlich so siech, daß er auch auf einem noch härteren Lager und in einer noch entsetzlicheren Atmosphäre ruhen würde. Neben mir stand ein bärtiger Mann; den Hut auf dem Kopfe, die Hände in den Hosentaschen, lehnte er müde an der Wand. Ich richtete mich fragend an ihn, ob er die erste Nacht im Asyle verbringe. Er bejahte. Wir plauderten und der anscheinend Harte wurde weich. „Bruder, Du bist jung,“ sprach er, „vielleicht rappelst Du Dich wieder auf, mit mir ist’s aus. Siehste, Frau und Kinder von mir sind da drüben“, er machte eine Armbewegung, als wolle er die Scheiben zerschmettern, „was sollen wir morgen anfangen? Aus der Wohnung raus, Arbeit ist nicht zu erwischen, es bleibt mir noch der Strick!“
Die mit Chlor durchströmte Luft, welche aber nicht die aus der mit der Baracke in einer offenen Verbindung stehenden Latrinennische dringenden Düfte und die Ausathmungen der dichten Menschenmasse überwand, raubte fast den Athem. Polternd flog die Thür auf und ein Aufseher erschien, um die Gasflammen der Baracke zu verkleinern. Nun lag Alles in einem Vierteldunkel. Meine Nachbaren zur Rechten und zur Linken schliefen stehend, da und dort ließ sich ein Aechzen vernehmen, das von dem Schnarchen und Husten Anderer begleitet wurde, von Zeit zu Zeit erhob sich fluchend eine Gestalt, reckte sich und legte sich wieder nieder. Viele hatten Rock und Stiefel ausgezogen und diese beiden Stücke in eine Kopfunterlage verwandelt. Manche auch lagen völlig angekleidet da. Je näher Mitternacht kam, desto kühler wurde es; die zwei eisernen Oefen der Baracke waren längst erloschen und ich zog den leichten Rock fester an mich.
Meine Absicht, bis zum andern Morgen im Asyl auszuhalten, ließ sich nicht verwirklichen. Nirgends bot sich ein Ruhesitz, die Luft wurde immer drückender und ich hatte Mühe, mich aufrecht zu erhalten.
Ich stieg nochmals über die ruhenden Insassen der Baracke hinweg, die etwa 200 Menschen in sich schließen mochte und eilte nach der „Aufnahme“, die bis in die Nachtstunde geöffnet ist. Nun trat das Unerwartete ein, daß man mich nicht wieder hinauslassen und in sehr energischer Weise zum Bleiben zwingen wollte. Nach längerer erregter Auseinandersetzung erzwang ich mir endlich den Austritt. Als ich nach stundenlangem Verweilen an dem schrecklichen Orte, den man fünfmal im Monat aufsuchen darf, hinaus auf die Straße trat und mich der Nachthauch kühlend anfächelte, hob sich die Brust.
Und nun das Finale! Ich lasse das Statistische Jahrbuch sprechen:
„Die Frequenz des in der Verwaltung mit dem Arbeitshause verbundenen städtischen Asyls für nächtliche Obdachlose in der Friedenstraße ist nach dem Bericht der Arbeitshaus-Verwaltung nachstehend zusammengestellt. Nach dieser Tabelle frequentirten vom 1. April 1884 bis 31. März 1885 das Asyl 87.314 Personen, und zwar 82.405 Männer, 4.787 Frauen und 122 Kinder, im ganzen also 24.223 Personen mehr, als im vorigen Etatsjahre. Von diesen 87.314 Personen wurden 1.963 einer Krankenanstalt, 2.975 dem Amtsanwalt überwiesen; 4.494 derselben waren zum 1. Male im Asyl.“
Wie mögen schließlich all die Hunderttausende und Millionen dieser Obdachlosen, die jeden Stand und Beruf umspannen, wohl enden? Ich weiß keine Antwort.
[1] Das Städtisches Asyl für Obdachlose befand sich von 1880 bis 1888 auf dem von Fischer genannten Grundstück in der Friedensstraße, die heute zum Bezirk Berlin-Friedrichshain gehört. (Hinweis des Herausgebers)
[2] Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin (1842 – 1904) war ein russischer Maler, der insbesondere durch seine Kriegsbilder bekannt wurde. Mit seinen Werken von Schlachtfeldern und das Grauen des Krieges zeigenden Bildern propagierte er ein pazifistisches Weltbild. Mit Ausstellungen gepaarte Vortragsreisen führten ihn u. a. ab 1881 auch nach Berlin, wo seine Werke viel diskutiert wurden. Maler wie Hans Baluschek nahmen sich die realistischen Darstellungen Wereschtschagins zum Vorbild.
Wenn dieses Buch in die Oeffentlichkeit tritt, ist Berlin um eine Stätte ärmer, die wahrlich nicht zum Ruhm der Reichshauptstadt beitrug. Ich meine das STÄDTISCHES ASYL FÜR OBDACHLOSE in der Friedenstraße. Von Ende Oktober 1887 ab erhebt sich vor dem Prenzlauer Thor ein stattlicher Bau, in dem die „Parias der Gesellschaft“ für einige Nächte ein Unterkommen erhalten. Wenn sich auch deshalb nicht das Elend vermindert, so glaube ich doch, daß durch das neue Haus ein anderer Geist ziehen wird, als durch den alten, nun bald verschwindenden Barackenbau.
Berlin besitzt ein Privat-Asyl für Obdachlose, das in die Männer-und Frauen-Abtheilung zerfällt und das erwähnte, ebenfalls von beiden Geschlechtern benutzbare Städtische Asyl. Das erstere ist mustergiltig und ein sicherer Bergungsort; ganz das Gegentheil war mit dem anderen der Fall. Um eine der Wirklichkeit entsprechende Schilderung geben zu können, habe ich das Asylwesen als Armer unter den Armen beobachtet. Ein Jeder, der über sociale Zustände schreibt, sollte dieselben aus eigener Anschauung ken¬nen und solange es sich nicht um unüberwindbare Schwierigkeiten handelt, die Dinge an der Quelle studiren.
In einem altersschwachen Anzuge, zu dem ein zerlöcherter Hut vortrefflich paßte, langte ich eines Abends gegen neun Uhr vor der Nr. 53 der Friedenstraße [1] an. Ein wackeliger Zaun, dessen Mitte eine enge Thür einnahm und an deren rechter Seite ein Schild angebracht war, schloß das „Städtische Asyl für Obdachlose“ von der Außenwelt ab. Den von einer Gaslaterne beleuchteten Eingang hielten zwei Schutzleute besetzt, die unerbittlich Jeden zurückwiesen, der ihrer Ansicht nach zu tief in die Flasche geguckt hatte und das war bei Manchem der Fall. Ich öffnete die Thür und betrat eine Art Vorhof, auf dem sich die der Straße zunächst liegende Holzbaracke erhob und die vorn in einem Verschlage das Aufnahmebureau und weiter hinten den Raum für die weiblichen Obdachlosen enthielt. Zur Zeit der großen Berliner Wohnungsnoth schnell aufgeschlagen, dienten die Holzbaracken nun schon Jahre lang Asylzwecken. Ich wollte eben die in das Innere führenden paar Stufen hinaufsteigen, als ein blutjunges Mädchen, mit einem Kinde auf dem Arme vor mir her wankte. Wir betraten gleichzeitig den Aufnahmeraum. Hinter niedrigem Verschlage saß schreibend ein brillenbewaffneter Aufseher.
Mit kaum vernehmbarer Stimme gab das Mädchen ihren Namen und die Geburtsdaten an. Dann ein barsches „Geradezu“ und die Abgehärmte wankte von dannen. Was mich betrifft, so nannte ich, indem ich die vorschriftsmäßige militärische Aufstellung nahm, meinen vollen Namen. Glücklicherweise wurde ich nicht nach der Art des Berufs gefragt und konnte denn ungehindert weiter dringen. Ich möchte übrigens bemerken, daß man mich, als ich einige Monate später, im Sommer 1887, das Unternehmen wiederholen wollte, erkannte und nach einer lebhaften Auseinandersetzung zurückwies.
Die Baracken waren untereinander durch Laufstege verbunden. Ich überschritt den ersten und öffnete die Thür zu der mir an¬gewiesenen Baracke. Ein Schritt nach vorn und ehe ich mich’s versah, lag ich langhingestreckt auf — Menschenleibern. Unter dem Stöhnen und Schimpfen der am Boden Liegenden erhob ich mich. Ich blickte umher. War’s Wirklichkeit, war’s Traum, das sich den Augen bot? Ich stand dem grausigsten Elend gegenüber, das aus jedem Winkel der Baracke grinsend hervorschaute.
… Vielleicht entsinnt sich noch Dieser und Jener des Bildes der Wereschagin-Ausstellung [2] vom Jahre 1881, das ein großes Todtenfeld darstellte. Wie ich die Anzahl von Menschen sah, die hier im Asyl enganeinandergepfercht sich am Boden wälzten oder stehend den Morgen erwarteten, lebte die Erinnerung an jenes erschütternde Bild des russischen Malers wieder in mir auf. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte. Die Baracke war mit etwa dreißig Bänken gefüllt, von denen jede mit zwei auf ihnen ausgestreckten Obdachlosen mit Beschlag belegt worden war.
Unter und zwischen diesen Bänken „ruhten“ neben- und übereinander die minder vom Glück begünstigt Gewesenen. Denn wer einen Platz da oben erhaschen konnte,“ wurde beneidet und mehr als einmal ist es deshalb zu Schlägereien gekommen. — Alles wegen einer Ruhestätte auf einer schmalen Bank. Endlich wagte ich ein Weitergehen; es war schwer. Wo sich ein freies fußlanges Plätzchen zeigte, setzte ich ein und so vermochte ich denn all¬mählich nach dem Hintergründe der Baracke zu gelangen, wo ich noch einige Spätangekommene verzweifelnd stehen sah. „Bist auch nicht früh genug gekommen“, rief mir ein vielleicht zwan-zigjähriger Bursche zu, dessen Aeußeres ebenso zerlumpt wie das meinige war.
Wer ein eigenes Heim hat, wer nie in kalter Nacht obdachlos durch die Straßen geirrt ist, wird es kaum glaublich finden, daß die Mehrzahl der Unglücklichen — sehr gut schlief. Manche hatten sich Tage hindurch nicht mehr ausgestreckt, die Nächte wurden, nur dann und wann durch ein Stillstehen oder Setzen auf einen Stein oder eine Promenadenbank unterbrechend, in fortwährender Wanderung verbracht. Der Körper ist schließlich so siech, daß er auch auf einem noch härteren Lager und in einer noch entsetzlicheren Atmosphäre ruhen würde. Neben mir stand ein bärtiger Mann; den Hut auf dem Kopfe, die Hände in den Hosentaschen, lehnte er müde an der Wand. Ich richtete mich fragend an ihn, ob er die erste Nacht im Asyle verbringe. Er bejahte. Wir plauderten und der anscheinend Harte wurde weich. „Bruder, Du bist jung,“ sprach er, „vielleicht rappelst Du Dich wieder auf, mit mir ist’s aus. Siehste, Frau und Kinder von mir sind da drüben“, er machte eine Armbewegung, als wolle er die Scheiben zerschmettern, „was sollen wir morgen anfangen? Aus der Wohnung raus, Arbeit ist nicht zu erwischen, es bleibt mir noch der Strick!“
Die mit Chlor durchströmte Luft, welche aber nicht die aus der mit der Baracke in einer offenen Verbindung stehenden Latrinennische dringenden Düfte und die Ausathmungen der dichten Menschenmasse überwand, raubte fast den Athem. Polternd flog die Thür auf und ein Aufseher erschien, um die Gasflammen der Baracke zu verkleinern. Nun lag Alles in einem Vierteldunkel. Meine Nachbaren zur Rechten und zur Linken schliefen stehend, da und dort ließ sich ein Aechzen vernehmen, das von dem Schnarchen und Husten Anderer begleitet wurde, von Zeit zu Zeit erhob sich fluchend eine Gestalt, reckte sich und legte sich wieder nieder. Viele hatten Rock und Stiefel ausgezogen und diese beiden Stücke in eine Kopfunterlage verwandelt. Manche auch lagen völlig angekleidet da. Je näher Mitternacht kam, desto kühler wurde es; die zwei eisernen Oefen der Baracke waren längst erloschen und ich zog den leichten Rock fester an mich.
Meine Absicht, bis zum andern Morgen im Asyl auszuhalten, ließ sich nicht verwirklichen. Nirgends bot sich ein Ruhesitz, die Luft wurde immer drückender und ich hatte Mühe, mich aufrecht zu erhalten.
Ich stieg nochmals über die ruhenden Insassen der Baracke hinweg, die etwa 200 Menschen in sich schließen mochte und eilte nach der „Aufnahme“, die bis in die Nachtstunde geöffnet ist. Nun trat das Unerwartete ein, daß man mich nicht wieder hinauslassen und in sehr energischer Weise zum Bleiben zwingen wollte. Nach längerer erregter Auseinandersetzung erzwang ich mir endlich den Austritt. Als ich nach stundenlangem Verweilen an dem schrecklichen Orte, den man fünfmal im Monat aufsuchen darf, hinaus auf die Straße trat und mich der Nachthauch kühlend anfächelte, hob sich die Brust.
Und nun das Finale! Ich lasse das Statistische Jahrbuch sprechen:
„Die Frequenz des in der Verwaltung mit dem Arbeitshause verbundenen städtischen Asyls für nächtliche Obdachlose in der Friedenstraße ist nach dem Bericht der Arbeitshaus-Verwaltung nachstehend zusammengestellt. Nach dieser Tabelle frequentirten vom 1. April 1884 bis 31. März 1885 das Asyl 87.314 Personen, und zwar 82.405 Männer, 4.787 Frauen und 122 Kinder, im ganzen also 24.223 Personen mehr, als im vorigen Etatsjahre. Von diesen 87.314 Personen wurden 1.963 einer Krankenanstalt, 2.975 dem Amtsanwalt überwiesen; 4.494 derselben waren zum 1. Male im Asyl.“
Wie mögen schließlich all die Hunderttausende und Millionen dieser Obdachlosen, die jeden Stand und Beruf umspannen, wohl enden? Ich weiß keine Antwort.
[1] Das Städtisches Asyl für Obdachlose befand sich von 1880 bis 1888 auf dem von Fischer genannten Grundstück in der Friedensstraße, die heute zum Bezirk Berlin-Friedrichshain gehört. (Hinweis des Herausgebers)
[2] Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin (1842 – 1904) war ein russischer Maler, der insbesondere durch seine Kriegsbilder bekannt wurde. Mit seinen Werken von Schlachtfeldern und das Grauen des Krieges zeigenden Bildern propagierte er ein pazifistisches Weltbild. Mit Ausstellungen gepaarte Vortragsreisen führten ihn u. a. ab 1881 auch nach Berlin, wo seine Werke viel diskutiert wurden. Maler wie Hans Baluschek nahmen sich die realistischen Darstellungen Wereschtschagins zum Vorbild.