Szenen aus Simulacrum City
Szenen aus Simulacrum City
Ein Interview mit dem französischen Philosophen Jean Baudrillard zur aktuellen Debatte um die Rekonstruktion historischer Altstädte, zu Fragen der Wirklichkeit und Simulation, zu Yoga und gesunder Ernährung.
Monsieur Baudrillard, ein häufig zu hörender Vergleich rückt die Rekonstruktion historischer Altstädte, wie sie aktuell in Dresden, aber auch in Berlin, Potsdam, Braunschweig, Frankfurt am Main – ja letztlich aller Orten in Deutschland zu beobachten ist, in die Nähe von Disneyland. Der Vorwurf lautet, es würden historische Themenparks geschaffen, die nur wenig mit echter Geschichte zu tun hätten. Befürworter weisen diesen Vergleich entschieden zurück. Sie halten Kritikern entgegen, dass der Unterschied zwischen Disneyland und den aktuellen Rekonstruktionen darin bestehe, dass diese auf authentischen Vorbildern beruhten, die oft über Jahrhunderte hinweg das Gesicht deutscher Städte prägten. Was halten Sie als Philosoph von dieser Debatte?
Jean Beaudrillard: Nun, zunächst einmal denke ich, wir sollten Disneyland hier nicht unrecht tun. Disneyland erfüllt heutzutage einen wichtigen Zweck. Es existiert, um zu verbergen, dass es das wahre Land außerhalb Disneylands, nennen wir es Amerika, nennen wir es Frankreich oder Deutschland, nicht mehr gibt. Disneyland ist mittlerweile überall, oder richtiger: Das reale Land ist Disneyland. Die Vorstellung von einem Disneyland, zu dem wir eigens fahren könnten, sei es in Florida oder Paris, existiert hingegen nur noch, um uns glauben zu machen, dass der Rest der Welt real sei.
Ist das nicht eine etwas pessimistische Sichtweise?
JB: Oh nein, überhaupt nicht. Sie missverstehen mich. Wie gesagt, ich schätze Disneyland in der Tat sehr - gerade heute, da alles was Disneyland umgibt, Los Angeles, die USA, auch unser gutes altes Europa längst nicht mehr real, sondern vielmehr zu einer Simulation geworden ist, zu einer Hyperrealität, wie ich zu sagen pflege. Sie fragen mich nach historischen Rekonstruktionen und ob diese Disneyland gleichen mögen... gut, aber zunächst einmal würde ich die Frage gerne an Sie zurückgeben und fragen: Wo wären wir heute ohne die Vorstellung eines Disneyland? Es ist doch letztlich keine Frage mehr, ob eine einzelne Repräsentation der Realität mehr oder weniger originalgetreu, mehr oder weniger korrekt oder inkorrekt erscheint. Worum es geht ist vielmehr die Verschleierung der Tatsache, dass das Reale als solches nicht mehr real ist. Denn nur auf diese Weise ist das Realitätsprinzip zu retten. Der Vergleich mit Disneyland ist in diesem Sinn weder richtig noch falsch, denn Disneyland ist eher eine Art Prinzip, eine Maschine zur Aufrechterhaltung der Fiktion, welche besagt, dass es um die Maschine herum tatsächlich etwas gebe, das wirklicher ist als es selbst.
Das bringt uns mitten ins Herz ihres Denkens, nämlich zum Begriff der Hyperrealität oder auch des Simulacrums. Könnten Sie diese Begriffe für unsere Leser etwas näher erläutern?
JB: Nun, lassen Sie mich Ecclesiastes zitieren. Hier wird definiert: “Das Simulacrum ist nie das, was die Wahrheit verbirgt – es ist Wahrheit die verbirgt, dass es keine gibt. Das Simulacrum ist wahr.“
Aber das ist paradox...
JB: Paradox? Ja sicherlich. Doch dieses Paradoxon liegt nicht in der Beschreibung, sondern vielmehr in unserer heutigen Realität selbst. Sehen Sie sich doch einmal um: Wohin sie auch blicken, längst wurde alles durch sein eigenes Zeichen ersetzt: Fernsehen steht für echte Geschehnisse, Internet für persönliche Kontakte, genmanipulierte Produkte ersetzen echte Lebensmittel, künstliche Intelligenz verdrängt den menschlichen Intellekt... und wozu hat das auf der anderen Seite geführt? Biologisch-dynamisches Essen, gesunde Ernährung, Yoga statt einfacher Bewegung, Jogging statt Spazierengehen... überall herrscht das Prinzip des Recyclens. Wir recyclen mühselig verlorene Fähigkeiten, oder verlorene Körper, oder verlorene Gemeinschaft... aber was uns dabei längst abhanden gekommen ist, ist das Original, auf das wir uns beziehen könnten. Wissen sie etwa noch, wie eine einfache Tomate schmeckt? Und sind sie sicher, dass dieser Geschmack ihr nicht etwa synthetisch eingeimpft wurde? Und falls sie biologisch-dynamisch rekonstruiert wurde – nach welchem Vorbild? ...wohin sie auch Blicken, Sie stoßen auf nichts als Simulationen. Das Zeitalter der Repräsentanz haben wir längst hinter uns gelassen.
Könnten Sie diesen Gedanken näher ausführen?
JB: … nun, Simulation und Repräsentanz stehen sich unvereinbar gegenüber. Der Gedanke der Repräsentation, wie er noch das 20ste Jahrhundert prägte, beruht auf dem Prinzip, dass es eine Entsprechung gebe zwischen Zeichen und Realität, zwischen Wort und Gegenstand, zwischen Abbild und Welt. So, wie eine Landkarte ein Terrain repräsentiert. Simulation dagegen stellt eine radikale Negation dieses Gedankens dar. Ja, ich möchte sagen, die Simulation ist das Todesurteil für den Gedanken der Repräsentation. Während das Prinzip der Repräsentation versucht, die Simulation zu entlarven, indem es sie als falsche Repräsentation aufzeigt, verschlingt die Simulation schlichtweg das gesamte Konzept der Repräsentation. Es absorbiert es, vernichtet so jede Differenz und macht alles zum Simulacrum.
Kommen wir an diesem Punkt auf die Architektur zurück. Welche Konsequenzen haben Ihre Ausführungen für die aktuelle Debatte um historische Rekonstruktionen, wie sie in Deutschland, so etwa in Dresden - dem wohl am weitesten fortgeschrittenen Simulacrum, um es in Ihren Begriffen zu sagen - geführt wird?
JB: Nun, bitte haben Sie Verständnis, wenn ich mich in die hiesige Debatte nicht einmischen möchte. Sicher verfolgen wir die Entwicklungen gerade in Dresden, dieser einstmals glänzenden kurfürstlichen Metropole, dem barocken Florenz an der Elbe, auch in Frankreich mit wachem Interesse. Aber lassen Sie mich stattdessen ein anderes Beispiel wählen. Sicher kennen Sie das Kloster Saint-Michel de Cuxa? Es wurde einst Stein für Stein abgetragen, um in New York als Teil der Cloisters wiedererrichtet zu werden. Heute soll es nun mit großem Kostenaufwand an seinem originalen Standort reinstalliert werden. Und jeder soll dieser Restitution applaudieren. Ich sage ihnen dazu das folgende: Sicher, der Export der steinernen Überreste von Cuxa nach New York war in der Tat ein Akt der Willkür, der letztlich einer Logik der kapitalistischen Zentralisierung von Wert folgte... Der Re-Import des Klosters an seinen originalen Standort ist jedoch ein noch bei weitem willkürlicherer Eingriff. Es ist ein totales Simulacrum, das sich in einem seltsamen Akt der Verdrehung mit vermeintlich Realem verbindet. Das Kloster hätte in New York bleiben sollen, in seiner offensichtlich künstlichen Umgebung, die zumindest niemanden an der Nase herumführte. Es nun zu Repatriieren ist nichts als eine nachträgliche Ausflucht, eine Ausrede, eine Täuschung, ein so Tun als ob nichts geschehen wäre, ein sich willfährig retrospektiven Halluzinationen hingeben...
Parallelen zu unserer hiesigen Debatte liegen da nicht fern. Aber kommen wir nun von markanten Einzelgebäuden, wie sie die rekonstruierten Sakral- und Repräsentationsbauten in den Stadtzentren Dresdens oder Berlins darstellen, zur Frage des Geschichtsbewusstseins. Wie, Monsieur Baudrillard, interpretieren sie die aktuelle Sehnsucht nach dem Historischen? Woher kommt diese?
JB: Nun, wenn die Realität nicht länger das ist, was sie einst war – dann kann Nostalgie ihre volle Bedeutung erlangen.
Sie meinen, wir können heute nur wieder so unbeschwert Gotteshäuser und Paläste errichten, weil die Realität, die sich einstmals mit diesen verband, uns nicht mehr gegenwärtig ist? Weil absolutistische Macht und Willkürherrschaft, sei sie staatlich oder religiös motiviert, uns heute, da uns Prinzessinnen und Päpste vor allem aus Illustrierten bekannt sind, nicht mehr real erscheinen...
JB: Wenn Sie so wollen... ich selbst würde es allerdings etwas anders formulieren. Sehen Sie, das Historische, der Gedanke von Geschichtlichkeit an sich, ist ja ein starker Mythos, vielleicht in der Tat, einer der letzten verbleibenden Mythen überhaupt. Und dieser Mythos scheint seinen Ausdruck zu finden in der Sehnsucht nach der Präsenz des Historischen auch im Stadtbild. Allerdings tritt dabei ein Problem auf: Nämlich das Problem des Versuchs, eine möglichst perfekte Kopie erstellen zu wollen. Übereinstimmung ist jedoch ein Traum und sie muss ein Traum bleiben. Nur so ist zu gewährleisten, dass ein gewisser Grad an bewusster Illusion und vor allem: eine Möglichkeit, zu Imaginieren, verbleiben. Die Schwelle zum Double darf dabei nie überschritten werden. Denn dann verschwindet das innere Bild. Das duale Verhältnis löst sich auf – und somit jeder Reiz. Das Hologramm, das vermeintlich perfekte Abbild – und dabei ist es letztlich gleich, ob es sich um das zweidimensionale oder dreidimensionale Bild handelt – verliert alles Verführerische. Es ist das Ende jeder Imagination.
Das Simulacrum löscht also nicht allein die Repräsentation aus, sondern auch das Vorbild, auf welches sich die Repräsentation bezieht?
JB: Genau so ist es. Wenn ein Objekt genau so wie ein anderes zu sein scheint, ist es schon nicht mehr wie dieses, es ist so zu sagen ein wenig exakter als dieses. Absolute Gleichheit gibt es nicht, kann es nicht geben, ebenso wenig wie Exaktheit an sich. Was exakt ist, ist schon wieder zu exakt. Nichts kann sich selbst wiedergeben und hollografische Reproduktionen, wie ich sie hier nennen möchte, also vermeintlich perfekte Abbilder, seien sie zwei- oder dreidimensional, sind längst nicht mehr real, sie sind hyperreal. Sie haben keinerlei Wert im Sinn der vermeintlichen Reproduktion, die sie sein wollen, sondern allein simulativen Wert. Das Wahre, das Wahrhaftige, wenn es erst einmal zur Simulation geworden ist, verschlingt gleichsam seine eigenen Kriterien dessen, was wahr ist. Es verschlingt seine eigene Geburtsurkunde, wenn sie so wollen...
Die perfektionierte Kopie beraubt uns also unserer Imaginationsfähigkeit und somit unserer Möglichkeit, wahren oder eigenen Erinnerns? Verstehe ich Sie da richtig...
JB: Ja, und es kommt noch ein Umstand hinzu, den Sie soeben bereits ansprachen: Das perfekte hologrammatische Abbild vermag nämlich scheinbar alles, sogar noch perfekter zu erscheinen als das, was es in seiner Perfektion vergessen macht. Nur eines kann es nicht: Es kann dessen Schatten nicht einbeziehen. Und eben dies ist auch der Grund, warum es letztlich gar nichts vermag. Denn das versteckte Gesicht, das wahre Geheimnis dessen, was es simuliert, entgeht ihm. Und so zerbröckelt das Vorbild im Angesicht der Simulation, die sich in pures Wohlgefallen auflöst und in Selbstgenügsamkeit verliert.
Aber die Geschichte, wie sie in der Historizität der Bauformen zum Ausdruck kommt - bleibt diese nicht zumindest in gewisser Weise erhalten?
JB: Wie ich schon sagte, mit der Geschichte ist es so eine Sache. Sie ist, sie war vielleicht unser letzter Mythos, der Garant, dass es eine Referenz gibt. Das große Ereignis und das große Trauma dieser Zeit ist jedoch der Zerfall jeglicher Referenzen. Während so viele Generationen, insbesonde-re die letzten, im Strom der Geschichte lebten, leben mussten, in Krieg, Faschismus, der euphori-schen oder katastrophenhaften Erwartung einer Revolution – hat man heute den Eindruck, dass die Geschichte sich in den Ruhestand begeben hat und hinter sich nichts als einen indifferenten Nebel zurücklässt, dass sie zwar von gelegentlichen Wogen hin- und her bewegt wird, aber ihr Potential im Sinn einer persönlichen, wie kollektiven Referenz verloren hat. Es ist dieser empfundene Leerraum, in den die Phantasmen einer vergangenen Geschichte strömen, um eine Palette an Retromoden an die Oberfläche zu heben. Nicht so sehr, weil die Menschen tatsächlich an sie glauben würden, sondern schlicht und einfach um eine Zeit heraufzubeschwören, als es wenigstens noch so etwas wie Geschichte gab. Und dies selbst, wenn es sich dabei um eine gewaltsame Epoche handelt. Wir sprachen vorhin von der Zeit des Absolutismus, also der Zeit des Barock, aber eben auch jener des Feudalismus und des 30-jährigen Krieges. Alles dient dazu, der Leere zu entkommen, diesem Dahinplätschern der Tagespolitik, der empfundenen Blutleerheit an Wert und Bedeutung. Es ist vor diesem Hintergrund, dass alles nur lang genug Vergangene en gros wieder heraufbeschworen wird. Eine Kontrollinstanz selektiert nicht länger. Die Nostalgie regiert. Und was dabei blindlings unter den Glanz der Prunkumzüge der vermeintlich goldenen Zeiten untergepflügt wird, sind die Kehrseiten der Geschichte, jeder Geschichte, auch die der selbst erlebten. Das alles verschwindet im Aufscheinen der Simulacren.
Noch eine abschließende Frage. Wonach, wenn nicht nach dem Vorbild der Geschichte, die ja nicht nur Vergangenheit, sondern letztlich auch den Gedanken der Zukunft mit einschließt, sollen wir Städte künftig gestalten? In einem Satz gesagt, was denken Sie?
JB: Sie meinen ganz kurz und prägnant? Das ist selbstverständlich schwer auf einen Punkt zu bringen. Lassen sie mich Nachdenken... wie wäre es mit einem ihrer großen Dichter, Bertolt Brecht: „Wo nichts an seinem ersehnten Platz ist, da ist Unordnung. Wo alles an seinem Platz, aber nichts ersehnt ist, da ist Ordnung.“
Ich denke, das lassen wir als Schlusswort gelten. Monsieur Baudrillard, wir danken für das Gespräch.
Abbildungen: Szenen aus Simulacrum City; mehrteilige Bildserie/Kollagen aus digitalen Animationen zu aktuell im Bau befindlichen historischen Altstadtrekonstruktionen.
Interviewtext: Dresden ist überall – ein Zwiegespräch mit Jean Baudrillard; aus dem Material zur Ausstellung: Benno Hinkes/Regina Weiss – Simulacrum City, Ausstellungsraum Bautzener69, Dresden, 15.6–13.7.2013 (Ausstellungskatalog aktuell in Vorbereitung).
www.regina-weiss.dewww.benno-hinkes.de