man nicht mehr im Prenzlauer Berg

man nicht mehr im Prenzlauer Berg

Jo Preußler
Ich bin 15 Jahre alt. Behütete Kindheit in Käthes kühlem Schoß. Nach der Schule quetsche ich mich mit Freunden auf die enge Bank, fahre Fahrrad um unsere kleine Welt, esse Softeis, trinke Bier und lausche den wirrwahren Geschichten der ansässigen Penner. Ein zehnjähriger Junge verkauft die neue Ausgabe der Spiel & Spaß & Traurigkeit. Eine Zeitung von Kindern für Kinder, einen Abenteuerspielplatz, Frieden, Selbstbestimmung, gegen Autowahn und die Räumung der besetzten Häuser nebenan. Das war 1991. Einst wurde hier die Republik Utopia vom Spielplatz ausgerufen.
Während ich mein Abitur mache, wachsen an den im Krieg entstandenen Ecken des Platzes Häuser. Auf dem von Hunden durchlöcherten Kolle rollt man Rasen aus und vergrößert den Spielplatz. Kiezläden können die neuen Mieten nicht mehr bezahlen. Das Café Westphal macht Platz für 100 schlechte Kopien im "Szene-Kiez". "Spekulanten zu Fischstäbchen" steht an die Wand gemalt. Ein Jaguar brennt lichterloh. Zur Walpurgisnacht springen nicht mehr Hexen übers Feuer sondern behelmte Polizisten durch brennende Barrikaden. Kleine Kiezkönige sind ebenso dabei wie Punks aus Westdeutschland. Die belebten Hinterhöfe sterben aus. Die Fassaden scheinen. Ich sammle arglos weggeworfene Flaschen auf dem Kollwitzplatz. Ein Penner ist gestorben.
Die fertigen Eckbebauungen und Sanierungen ragen von allen Seiten wie Eisbrecher auf meine Eisscholle: Kolle, über welchen sich Gruppen von Schaulustigen quälen. Noch treffen Eier den Touristenbus. Auch werden Zacken in die Kronen der Bäume geschnitten damit die Bewohner der neuen Dachgeschosse auch etwas zum anvisieren haben. Im Hausflur "Die Schande steht dir ins Gesicht geschrieben" – der Bürgerrechtler hält es aus. Wie Wanderameisen schlagen die neuen Bewohner des Viertels Breschen in meine Kindheit: Die historische Post wird zur Cocktailbar, der Konsum zum Lampenladen, in der ehemaligen Kinderbibliothek gibt es Milchaufschäumer und der Biergarten ist zum Superspar geworden.
Die Szenesafari erreicht ihren Höhepunkt, ich studiere im zehnten Semester. Auch die Gesichter schlagen um, das Softeis ist alle.
Die Eisdiele neben der neu entstandenen längsten Sitzgelegenheit Europas beherbergt einen Mann mit Papagei, bewundert von vielen Passanten. Für den Quadratmeter Wohnlage zahlt man 20 Euro. Die Nische der Kindheit ist nach Verwunderung, Ekel und Einsicht zur Wohnstube anderer Menschen geworden. Was ist geblieben? Ich sitze am Helmi und freue mich über mein Außenklo. Ab und zu schaue ich am Kolle vorbei, esse eine Kugel Eis und denke an Spiel, Spaß und Traurigkeit.

April 2003.

Erschienen in: Berlin Topographie Freunde. 15, ein alternativer Stadtführer, hrsg. v. Pia Gruneth, Berlin 2003
Mo, 10/13/2025 - 12:16
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