Nachlese
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Was es nicht in diesen Schwerpunkt geschafft hat
Anna-Lena Wenzel
Das Thema Obdachlosigkeit hat mich über ein Jahr begleitet und verliert nichts an seiner Präsenz und Dringlichkeit. Dennoch ist es Zeit für einen neuen Schwerpunkt - und einen Rückblick auf Beobachtungen und Themenaspekte, die es nicht als einzelne Beiträge in diesen Schwerpunkt geschafft haben:
Das Buch Das Leben des Vernon Subutex der französischen Autorin Virginie Despentes ist eine Zeitlang in aller Munde. Als ich es lese, bin ich baff, mit welcher Direktheit hier das Thema Obdachlosigkeit verhandelt wird:
„Es hat drei Tage gedauert, bis er sich durchgerungen hat, sich hinzusetzen und die Hand auszustrecken. Den ersten Tag hat er unter der Erde verbracht, in der Metro. Von einem Endbahnhof zum anderen. Er ist alle Linien abgefahren. Hat gedöst, die Zeitungen gelesen, die die Leute beim Ausstiegen liegen gelassen haben, er hat die Bahnsteige vorbeiziehen sehen, Anschlusszüge genommen, Musikern zugehört. […] Er wahrte den Anschein. Dabei kümmerte sich keiner darum, was er tat.“
Despentes schafft es zu bennen wie unfassbar und zugleich allgegenwärtig das Phänomen ist:
„Was kann nur passiert sein, dass ein Junge wie er in eine so dramatische Lage geraten ist? Jeder sagt sich, wenn er einen Obdachlosen sieht, das könnte ich sein, das könnte mein Sohn sein, aber jetzt wird Sophie bewusst, dass man nie wirklich daran glaubt. Man sagt sich, irgendwas muss da sein, ein geistiges Problem, ein Grund.“
Und zeigt zugleich auf, wie schnell es gehen kann, dass man die Seite wechselt:
„Wenn man die Grenzen erst einmal überschritten habe, passiert nichts Erschütterndes, alles verläuft unauffällig und in verwirrendem Tempo: Er hat die Seite gewechselt. Die Welt der Aktiven ist für ihn schon weit weg.“ [1]
Das Buch Das Leben des Vernon Subutex der französischen Autorin Virginie Despentes ist eine Zeitlang in aller Munde. Als ich es lese, bin ich baff, mit welcher Direktheit hier das Thema Obdachlosigkeit verhandelt wird:
„Es hat drei Tage gedauert, bis er sich durchgerungen hat, sich hinzusetzen und die Hand auszustrecken. Den ersten Tag hat er unter der Erde verbracht, in der Metro. Von einem Endbahnhof zum anderen. Er ist alle Linien abgefahren. Hat gedöst, die Zeitungen gelesen, die die Leute beim Ausstiegen liegen gelassen haben, er hat die Bahnsteige vorbeiziehen sehen, Anschlusszüge genommen, Musikern zugehört. […] Er wahrte den Anschein. Dabei kümmerte sich keiner darum, was er tat.“
Despentes schafft es zu bennen wie unfassbar und zugleich allgegenwärtig das Phänomen ist:
„Was kann nur passiert sein, dass ein Junge wie er in eine so dramatische Lage geraten ist? Jeder sagt sich, wenn er einen Obdachlosen sieht, das könnte ich sein, das könnte mein Sohn sein, aber jetzt wird Sophie bewusst, dass man nie wirklich daran glaubt. Man sagt sich, irgendwas muss da sein, ein geistiges Problem, ein Grund.“
Und zeigt zugleich auf, wie schnell es gehen kann, dass man die Seite wechselt:
„Wenn man die Grenzen erst einmal überschritten habe, passiert nichts Erschütterndes, alles verläuft unauffällig und in verwirrendem Tempo: Er hat die Seite gewechselt. Die Welt der Aktiven ist für ihn schon weit weg.“ [1]
Um das Ausmaß der Obdachlosigkeit besser ermessen zu können, wird im Januar 2020 in Berlin die Nacht der Solidarität durchgeführt. Ziel ist es, die Zahl der in der Stadt lebenden Obdachlosen genauer zu bestimmen, um die Hilfsangebote besser darauf abstimmen zu können. Die Aktion sorgt bundesweit für Diskussionen über den Sinn und Zweck dieser Aktion, sie bringt das Thema in den öffentlichen Fokus und wirft Fragen nach einem angemessen Umgang mit ihm auf. Auch wenn ich die Kritik an ihr nachvollziehen kann, habe ich an der Aktion teilgenommen und war mit einem kleinen Team in Kreuzberg bis um halb ein Uhr nachts unterwegs. Obwohl wir just an diesem Abend keinem Obdachlosen im öffentlichen Raum begegnet sind, war es ein bereichernder Abend, weil man mit Menschen, die auf ganz unterscheidliche Weise mit dem Thema verbunden sind, unterwegs war und sich ausgetauscht. Unter anderem sprachen wir über die Problematik, dass es neben der sichtbaren Obdachlosigkeit auch eine hohe Dunkelziffer gibt, die irgendwo bei Bekannten auf dem Sofa oder an anderen Orten eine Bleibe für die Nächte finden.
Dass das Thema die Menschen umtreibt, lässt sich auch daran erkennen, dass es mehrere neue Straßenzeitungen gibt, die an Obdachlose ausgeteilt und von diesen verkauft werden. Dazu gehören Karuna Kompass (eine Sozialgenossenschaft, der sich um Kinder und Jugendliche kümmert), Arts of the Working Class (eine Künstler*inneninitiative) oder Streem (die von der East Side Mall gesponsert wird). In letzterer gibt diese eine tolle gezeichnete Reportage von Sebastian Lörscher, die ich euch empfehlen möchte: Schatten der Gesellschaft. Die Obdachlosen von Berlin.
Einmal sensibilisiert für das Thema, finde ich diverse Beiträge zum Thema im Radio – sei es das Feature über die polnische Organisation Barka, die obdachlosen Polen aus Berlin Heimplätze in Polen anbietet, oder das eindringliche Porträt eines jungen Japaners, der sich als Jiyujin bezeichnet, als freier Mensch, weil er den Militärdienst beendet hat und beschließt in Kyoto unter einer Brücke zu leben. Die Obdachlosigkeit ist hier nicht Schicksal, sondern eine selbstgewählte Entscheidung – bis das Geld ausgeht und er zurück zu seinen Eltern geht.Das Thema Obdachlosigkeit ist präsent – und wird es immer mehr, weil sich die Wohnungssituation weiter verschärft und zunehmend auch die Mittelschicht betrifft.
Apropos Japan: Wie sicht Obdachlosigkeit in diesem Land zeigt, hat gleich mehrere Künstler*innen beschäftigt: Alexa Kreissl und Daniel Kerber haben eine Foto-Serie der blauen Plastikplanenbehausungen von Obdachlosen gemacht, während Anke Haarmann einen Video-Essay über das Thema mit dem Titel Public Blue drehte und auf der Online-Plattform The Think einen lesenswerten Artikel zum Thema veröffentlichte. Darin heißt es: „Diese bauliche und soziale Durchsetzung einer eigenen Daseinsform stellt einen Affront gegenüber den Standards japanischer Lebensweise dar: No-juku-sha sind Außersoziale aber sie schaffen es, eine eigene Sozialstruktur zu entwickeln. Sie sind Elende und hausen trotzdem in akzeptablen Unterkünften; sie sind Niedrige und erlauben es sich gleichwohl, politisch zu agieren. Sie erschaffen einen öffentlichen Raum der Konfrontation und sozialen Interaktion – zumindest partiell, vorübergehend und an wechselnden Orten – und territorialisieren damit ein politisches Verständnis vom Stadtraum als öffentlichem Raum.“ Jan Kopfleisch baute für das Projekt pappenheim. Ruhe im Karton ein Pappschachtelhaus , das sich auf das Maß einer Tatami (Bodenmatte, Grundmodul japanischer Architektur) falten lässt, um mit diesem durch Kyoto zu ziehen. Die Fotos für diesen Beitrag stammen von Thomas Monses und Frauke Boggasch - beides große Japan-Fans.
Leider kommt ein Interview mit der Theater-Regisseurin Karen Breece nicht zu Stande. Sie hat das Stück Auf der Straße inszeniert, dass im September 2018 im Berliner Ensemble uraufgeführt wurde. Mich hatte der Umfang der Recherche und die Vielschichtigkeit des Stückes beeindruckt, weil nicht nur drei konkrete Schicksale dargestellt wurden, sondern die Perspektiven diverser Akteure zusammengetragen werden: von den Mitarbeiter*innen der Bahnhofs- und Stadtmissionen über Politiker*innen bis hin zu den Betroffenen. Auf diese Weise entstand eine mehrschichtige und umfassende Sicht auf das Thema Obdachlosigkeit und Armut. Das Besondere: In dem Stück spielen drei Laien-Darsteller*innen mit, die von Obdachlosigkeit und Armut betroffen sind und somit teilweise ihr eigenes Leben auf die Bühne bringen.
Zu guter Letzt stoße ich auf eine Kurzgeschichte von Magdalena Diercks mit dem Titel Alinas Gast, die mich beschäftigt hat, weil sie darin die Frage eines respektvollen Umgangs berührt und die häufige Unsicherheit bennent, die einen bei Begegnungen überkommt:
„Das ist der Obdachlose. Er will Geld für eine Übernachtung“, sagte der Vater und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche.
„Vielleicht will er etwas zu essen!“, rief Alina dem Vater hinterher, der schon durch den Flur nach draußen lief.
„Das muss doch nicht sein“, sagte die Mutter. [1]
Die Frage eines respektvollen Umgangs treibt auch mich weiterhin um. Oft steckt in der Geste des Bettelns und des Geld-Gebens ein unangenehmes Machtgefälle, das ich gerne vermeiden würde. Schon lange überlege ich der Frau, die im Park vor meinem Haus lebt, Blumen zu schenken - um ihr etwas zu geben, das keinen Zweck erfüllt, sondern Freude machen soll. Aber im nächsten Moment denke ich wieder, ich sollte etwas wirklich nützliches machen, wie als Ehrenamtliche in der Bahnhofsmission zu arbeiten. Was aber auf jeden fall ein erster Schritt ist: hinzuschauen.
1] Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex, Kiepenheuer und Witsch, Köln 2017
[2] Magdalena Diercks: Alinas Gast, in: PS. Anmerkungen zum Literaturbetrieb #5, Oktober 2019, S. 181-186, hier: S. 182
Fotos: Thomas Monses und Frauke Boggasch
Fotos: Thomas Monses und Frauke Boggasch