Jenseits der Natur

Schwerpunkt: Brachen

Jenseits der Natur

Wie Club Real eine Brache im Wedding in eine Demokratie der Organismen verwandelt hat
Eingang zu Jenseits der Natur: Brygida Kowalska-Nwaimo
Anna-Lena Wenzel
Was für ein Kontrast: An der vielbefahrenen Osloer Straße befindet sich eine schmale, bewaldete Grünfläche, die durch einen Zaun abgegrenzt ist. Vor zwei Schildern steht Georg Reinhardt und erklärt einem Passanten das Projekt: „Wir haben sieben Organismengruppen, die wir kartiert haben: 1. Weichtiere und Würmer, 2. Kräuter, Gräser und Stauden, 3. Wirbeltiere, 4. Gehölze und Kletterpflanzen, 5. Gliederfüssler, also Spinnen und Insekten, 6. Pilze, Moose und Flechten und 7. Bakterien.“ Gemeinsam schauen wir uns die Karte an, die am Zaun hängt. Auf ihr sind Kreise, Linien und Zahlen eingezeichnet. Georg erklärt: „Hier sieht man das Gelände und da sieht man, dass wir aus sieben Organismengruppen insgesamt 190 Spezies bestimmt haben, die hier aufgelistet sind. Aus den sieben Gruppen haben wir mit Hilfe einer Maschine, die wie eine Lottoballmaschine funktioniert, zwei ausgelost, die dann eine Vertretung im Parlament kriegen. Wir haben hier eine Verfassung, die eine Gewaltenteilung mit Parlament und Exekutive vorsieht. Als dritten Schritt der Gewaltenteilung gibt es einen Justizpalast, der am 3. November im Ballhaus Ost tagt.“

Wir gehen um die Ecke, unter einem Leuchtschild mit der Aufschrift Jenseits der Natur vorbei, und kommen zur Eingangstür. Gegenüber stehen drei Schemel und eine Halterung auf der ein schwarzer Telefonhörer liegt. „Hier kann man eigentlich die Verfassung und die allgemeine Deklaration der Organismenrechte hören, aber gerade hört man nichts, weil die Solaranlage, über die das betrieben wird, bei Regen nicht genügend Strom produziert.“ Wir bleiben also vor der Verfassung stehen. „Unser Grundgedanke ist vielleicht erst mal irritierend: Weg mit der Natur – her mit der Politik! Aber es geht darum, dass der Naturbegriff meistens benutzt wird, um Einzelinteressen von ganz vielen Lebewesen zu überdecken mit einem allgemeinen Begriff, der eigentlich gar nichts aussagt, außer dass man sich das Material Natur aneignen kann oder dass man es schützen muss. Und diese beiden Verhältnisse – patriarchal beschützend oder autoritär ausbeutend – möchte dieses Projekt überwinden. Wir sagen: Natur gibt es gar nicht, sondern es gibt nur ganz viele Lebewesen, die alle Einzelinteressen haben. Wenn man die hörbar macht, dann ist man bei der Demokratie, denn in einem Ressourcenkonflikt, die es ja überall gibt, muss man immer abwägen: Wer hat hier recht? Oder: Wer kann sich hier durchsetzen? Gibt es Mindeststandards für alle Lebewesen? Unser Startpunkt sind eine Verfassung und eine allgemeine Deklaration der Organismenrechte gewesen, wo wir versuchen, festzulegen, was alle Organismen für Grundrechte haben.“

Wir treten durch die Tür auf das wild bewachsene Gelände. Die Geräuschkulisse der Straße verschwindet mit jedem Meter, den wir weiter vordringen. Einige Trampelpfade schlängeln sich durch das Gelände, das nach unten hin abfällt. Sofort springen die roten Schilder ins Auge, auf denen in weiß die Abgeordneten des Parlaments dargestellt sind. „Das sind die Standarten. Die stehen dort, wo die gelosten Parlamentsmitglieder gefunden wurden. Hier haben wir die Rötelmaus für die Wirbeltiere, die lebt gerne in Totholz. Da drüben ist die Parlamentsarchitektur, das sind die 15 Sitze für die Parlamentsmitglieder, die hier debattieren können. Dafür konnte man sich melden, Bürger*innen und Anwohner*innen oder wer Lust hatte.“

Beim Gang durch das Grün wird schnell klar, dass Georg Reinhardt ein versierter Kenner der Botanik ist: „Hier haben wir das Schöllkraut ... und hier das Pfaffenhütchen, wovon nur ein Strauch hier wächst, das ist eine Gehölzminderheit. Die hat einen Antrag eingebracht, dass für die Gehölzminderheiten etwas gemacht wird.“ Vom konkreten kommt Georg Reinhardt schnell wieder auf das große Ganze: „Die Idee ist eine Emanzipation aller Beteiligten, die auf der Grundannahme beruht, dass man mit der Politik aus dem evolutionärem Wettstreiten als reinem Wettbewerb heraustritt, in dem man sagt, es gibt Minderheitenschutz und eine Diversität, die an sich schon ein Wert ist. Das unterscheidet uns von denjenigen, die sagen, die Natur macht das schon. Denn das bedeutet, dass sich die Stärkeren oder die am besten Angepassten durchsetzen – das ist wie der freie Markt. Genau das wollen wir durch diese Politik verhindern.“

Wir kommen zu einem Rednerpult. „Es gibt ein Parlamentspräsidium, das macht einer von uns Initiatoren, denn wir dürfen nicht im Parlament sein. Da sind nur Bürger*innen drin, die sich melden. Die haben schon einmal getagt und Entscheidungen getroffen. Die Entscheidungen werden dann von der Gartenexekutive umgesetzt. Zum Beispiel wurde beschlossen, Nährgehölze für die Vögel zu pflanzen. Die stehen da hinten auf dem Gelände. Es sind Kornelkirsche, Felsenbirne und Weißdorn, die wegen der Beeren für die Vögel gepflanzt werden sollen.“

Ich entdecke Rosensträucher und einen Johannisbeerstrauch und frage Georg Reinhardt, ob das Gelände eine Zeit lang als Garten genutzt worden ist. Er vermutet, dass die verschiedenen Gehölze von Vögeln oder Eichhörnchen reingebracht wurden. Viele Pflanzen kommen genau einmal vor, wie ein Flieder oder ein Schneeball. „Es hat sich hier alles selbstständig bewachsen. Mit einer sehr interessanten Mischung.“ Er zeigt auf einen kleinen Haselnussstrauch und zwei kleine Eichen. „Da kommen nochmal andere Arten nach, die es vorher noch nicht gab. Die Entwicklung geht in Richtung Wald. Wir haben hier, ein bisschen wie im Wedding, eine ganz globalisierte Lebewesengemeinschaft. Zum Beispiel haben wir die ostasiatische Ulmenblattwespe entdeckt, die erst seit 2016 in Berlin nachgewiesen ist.“

Auf was für einem Gelände wir uns eigentlich befinden, will ich daraufhin wissen. „Wir haben über Luftfotos und Karten versucht herauszufinden, was hier war. Aber es war wahrscheinlich vor dem Krieg keine vollständige Bebauung, wir wissen aber, dass hier eine Brauerei war. Nach dem Krieg ist nichts mehr passiert – außer dass hier gelegentlich geschlägert wurde.“

„Geschlägert?“ hake ich nach. „Geschlägert bedeutet, dass Bäume entfernt wurden, zum Beispiel als das Haus hier rechts gebaut wurde. Das Gelände ist als öffentliche Grünfläche deklariert. Es ist momentan noch nicht dauerhaft öffentlich zugänglich. Das Naturschutzamt ist der Meinung, dass das hier nicht besonders wertvoll ist, aber wir werden sie noch eines Besseren belehren“, sagt er mit einem verschmitzten Lächeln: „Weil es hier schon eine hohe Diversität gibt und sich alles noch weiter entwickelt. Perspektivisch wird das Gelände geöffnet werden. Im Moment gibt es noch einen Kompromiss – eine Pflegevereinbarung mit dem Grünflächenamt für ein Jahr. Wir hoffen, dass es ein Modell sein könnte, wie man mit Grünflächen in der Stadt umgeht, um Bürger*innen einzubinden und ihr Interesse zu aktivieren, mitzugestalten.“

Kletterpflanzen haben Bäume und Büsche so überwuchert, dass man sie kaum noch sehen kann, nur an einigen Stellen ragen reife Holunderbeeren heraus. Tatsächlich sieht es so aus, als wäre dieses Areal lange Zeit sich selbst überlassen gewesen. Bis man ans hintere Ende kommt und hinter dem Zaun einen Supermarkt, samt sauber geschnittenen Rasenflächen entdeckt.
Dann stehen wir vor einer weiteren Standarte: „Die Kohlmeise ist die zweite Wirbeltiervertreterin“, erklärt Georg und bückt sich im nächsten Moment auf den Boden und zeigt auf ein Blatt. „Auf diesem Blatt sind zwei weitere Spezies ablesbar: Das eine ist ein Rüsselkäfer, der die Blätter anknabbert und die andere ist der Flieder Mehltau. Der wurde gleich ins Parlament gelost, der ist als Vertreter für die Pilze im Parlament.“

Ich frage Georg, woher er so viel über Pflanzen weiß: „Ich habe eine Gärtnerausbildung gemacht und habe ziemlich lang Botanik machen wollen“, erzählt er in seinem österreichischen Dialekt. Er sei außerdem Comiczeichner und Maskenbauer, aber hier vor allem als Initiator und Mitglied der Künstler*innengruppe Club Real dabei. Die Gruppe gibt es seit 2000. Sie realisieren partizipative und ortsspezifische Projekte in Wien, Frankfurt an der Oder oder in Berlin – dort waren sie damals im Palast der Republik dabei.
Georg Reinhardt wohnt mittlerweile in Berlin – nicht weit von der Osloer Straße im Wedding, was für das Projekt sehr praktisch wäre. Ich möchte wissen, wie sie das Gelände gefunden haben. „Entdeckt haben wir die Fläche per Zufall. Wir haben in ganz Berlin geschaut und haben viele Flächen gefunden, die toll, aber Privateigentum waren, oder auf denen bald gebaut wird. Dann gibt es Flächen vom Bund oder Naturschutzflächen, die ebenfalls heikel sind. Als wir diese Fläche entdeckt haben, hatten wir Glück, denn es ist eine Grünfläche und das Grünflächenamt war aufgeschlossen.

„Und wer finanziert euch?“
„Wir haben die Spartenoffene Förderung von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa bekommen. Das ist super, denn wir sind zwar offiziell ein Kunstprojekt, aber letztlich ist es ein politischer Prozess, der mit Repräsentation und Partizipation und eben auch Rechten von nicht-menschlichen Organismen zu tun hat. Letztlich geht es darum, die ökologischen Beziehungen zu durchdringen und zu sagen, wie kann man sie in politische Interessensbeziehungen übersetzen? Da es immer um Ressourcenkonflikte geht und um die Frage, wer hat wieviel Platz, gibt es immer ganz viele Interessen. Das, was für mich interessant und schön war, war zu sehen, wie begeistert die Leute teilweise waren, über diese sehr handfeste und erfahrbare Demokratie. Man kann sehen, was hier beschlossen wird. Zum Beispiel wurde ein Minderheitenschutz für bestimmte Gehölze beantragt, weil die nur sehr selten auf dem Gelände vorkommen, während andere ganz oft vorkommen. Es dürfen zwar keine Staatsbürger*innen getötet werden, weil das gegen die Grundrechte verstößt, aber das Parlament kann zum Beispiel beschließen, dass einige Gewächse freigeschnitten werden, um nicht überwachsen zu werden“.

„Kannst du ein Beispiel nennen?“
„Beim letzten Parlamentstreffen wurde das sogenannte Hensel-Katzenbakterium gelost, das ist ein Bakterium, das in Katzen vorkommt. Die Vertreterin hat einen Antrag gestellt, dass man auf diesem Gelände etwas für Katzen machen soll, was aber nicht durchgegangen ist. Sie konnte die anderen nicht davon überzeugen, dass es gut sei, wenn hier mehr Katzen rumlaufen. In so einem Fall kann man sich natürlich Verbündete suchen und sagen, die Mäuse schädigen die Gehölze, also versuche ich die auf meine Seite zu ziehen, denn wenn hier mehr Katzen wären, dann würden die Mäuse dezimiert und die Gehölze nicht so viel angeknabbert.“

Wir sind am anderen Ende des Geländes angekommen, links steht eine kleine Hütte samt Solaranlange für die Leuchtschrift am Eingang und die Audioinstallation. Auf dem Boden liegen zahlreiche Bierdeckel herum, unter anderem von Brauereien, die gar nicht mehr existieren. „Ich hoffe, dass wir da noch etwas mehr über die Vergangenheit der Fläche herausbekommen“, sagt Georg. Ich frage, wie lange ihr Projekt noch gehen würde. „Der Vertrag mit dem Grünflächenamt geht bis zum Sommer, aber wir sind optimistisch, dass wir den verlängern können. Und dann ist alles offen. Wir fänden es schön, wenn es länger geht, denn je länger es dauert, umso mehr kann man sehen, was sich in diesem System verändert an der Zusammensetzung der Arten oder am Ästhetischen. Sieht eine Organismendemokratie anders aus als ein Naturschutzgebiet oder ein Park? Sieht man, dass hier Entscheidungen anders getroffen werden?“

Georg hat zwei Zettel dabei, auf denen das Programm zum 1. Tag der Gartenexekutive am 29. September aufgelistet ist. Wir gehen die einzelnen Punkte durch und er zeigt nach rechts, denn dort soll ein Denkmal für die Neobiota entstehen. „Damit werden in der Pflanzensoziologie die sogenannten ‚neuen‘ Lebewesen bezeichnet, wobei neu in diesem Zusammenhang heißt, dass sie nach 1492 eingewandert sind. Sie sind zum Teil schon 300 Jahre in Berlin – aber immer noch neu! Die Neobiota haben eine Vertretung im Parlament, aber nun soll es auch ein Denkmal geben. Es geht darum, die typischen Klassifizierungen wie alt/ neu, heimisch/ invasiv zu hinterfragen, denn Neobiota wie der Götterbaum haben sich nach dem Krieg in der ganzen Stadt ausgebreitet und viele karge Standorte besiedelt. Er wird oft als Unkraut diffamiert, hat aber auch viel Aufbauarbeit geleistet. Der Antrag war, dass es ein Denkmal geben soll, für den ein Entwurfsideenwettbewerb ausgeschrieben wird. Wir wollen, dass die Besucher*innen sich beteiligen können mit Ideen.“

Zum Abschluss möchte ich wissen, was genau beim Justizpalast der Volksherrschaft im Garten im Ballhaus Ost passieren wird, der am 3. November stattfindet.
„Da kommt dieser Garten als großer Teppich mit allen Spezies auf die Bühne, und die Besucher*innen, die da hinkommen, können sich darauf aufhalten und informieren, denn es wird keine Tribüne geben. Da wird das ganze System dargestellt und der demokratische Prozess vorgeführt. Ein bisschen wie ein Stück, aber auch mit den Problemen und juristischer Klagen, die es vielleicht gibt. Die Besucher*innen werden dann zu Geschworenen des Verfassungsgerichts und müssen entscheiden, ob das alles nun demokratisch war oder nicht, und ob jemand übervorteilt wurde.“

„Was wird dann im Winter hier auf dem Gelände passieren?“
„Zwar gibt es im Winter nicht so viele Veranstaltungen, aber die Führungen finden die ganze Zeit statt. Da kann man sich immer anmelden bei uns, auch relativ kurzfristig unter 0179-5255802. Und ansonsten geht es im Frühling wieder los. Dann gibt es diesen ganzen Prozess noch zwei Mal – mit neuen Abgeordneten.“

Wir gehen zum Ausgang, aber Georg bleibt noch mal stehen. „Wie gesagt: wenn sich irgendjemand findet, der für eine bestimmte Gruppe, die noch nicht so repräsentiert ist, hier dazu kommt, freuen wir uns sehr! Das gilt auch für die Bodenlebewesen, die immer ein bisschen vernachlässigt werden. Dazu gehören ganz viele Insekten und Gliederfüssler, aber auch Würmer und Weichtiere – da haben wir auch noch nicht so viele. Da sind wir auf die Liebhaber*innen angewiesen.“

Dieser Beitrag wurde erstmals am 8.10.2019 im Magazin von Kultur-Mitte veröffentlicht.

Foto: Brygida Kowalska-Nwaimo
Kurzbeiträge

Einwürfe

Nolli lesen Kathrin Wildner und Dagmar Pelger sprechen darüber, wie man Karten liest
Die Mission. Kunst gegen Kälte 1997–2022 Anna Ulmer guckt im Gespräch mit Rudolf Goerke zurück auf die Obdachloseninitiave "Die Mission" in Hamburg
Spaces of Solidarity Der Kiosk of Solidarity macht Station in einer Ausstellung im Deutschen Architektur Zentrum

Fundsachen

OZ in Erinnerung Für „OZ: in memoriam“ hat sich Mary Limo
The Black Triangle 360 schwarze Dreiecke in Wien dokumentiert von Peter Schreiner

Straßenszenen

Zu Gast im 24. Stock Zu Gast bei Algisa Peschel, Stadtplanerin und eine der Erstbewohnerinnen des DDR-Wohnkomplexes in der Berliner Leipziger Straße
10 Tage Jerevan Notizen ihres 10-tägigen Aufenthalts von Anna-Lena Wenzel
Glitches GLITCHES ist die Bezeichnung für eine Re

So klingt

So lebt

man an der spanischen Touristikküste Architektur- und Reiseeindrücke von 2023/24 von Benjamin Renter, der an der spanischen Mittelmeerküste den Einfall der Investitionsarchitektur festgehalten hat.
es sich 20 Tage im Grenzturm Im Herbst 2019 hatten Kirstin Burckhardt
man im Olympiapark 1953 begonnen Timofej Wassiljewitsch Pro